Das Beben
nehmen dann eine halbe Schlaftablette und schlafen. Er kommt zurück, Sie kennen ihn, und ich kenne ihn auch. Und Sie dürfen keine bösen Gedanken gegen ihn haben, nichts ›Ich habe ihn aus der Gosse geholt‹ und solche Sachen, das fällt nur ..., doch, das fällt auf Sie zurück ... Nichts Böses denken, an Liebe und Freundschaft denken, baden und schlafen ... Nein, ich halte für ausgeschlossen, daß er nicht zurückkommt – er braucht nur das Gefühl der Freiheit ... Nein, ich weiß, Sie brauchen das Gefühl der Freiheit nicht. Sie sind der wundervollste Mensch, den ich je gesehen habe, aber andere ... Ich doch auch, ich brauche es auch, die meisten brauchen es ...«
So ging das lang, während ich lag und lauschte. Ich fürchtete, daß meine Atemzüge anders klangen als im Schlaf, aber darum brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Manon sprach nicht über sich, aber sie unternahm keinerlei Anstrengungen, etwas zu verbergen; sie schwieg, aber sie verschwieg nichts. Was herauskam, kam nicht einmal gegen ihren Willen heraus. Es verlor, sowie es am Tageslicht war, jede Bedeutung für sie; sie zuckte nur mit den Achseln und lehnte jede weitere Erklärung ab. Jetzt fiel der Name des Mannes, mit dem sie sprach: Sie sagte »Herr Haag« zu ihm. Dies intime, tröstende und von der Autorität einer Seelenführerin zeugende Gespräch wurde mit einem Mann geführt, den sie »Herr Haag« nannte, in ihrer Sphäre, in der es eigentlich nur Vornamen gab, sehr ungewöhnlich, wobei mich besonders reizte, wenn sie behauptete, die betreffenden Nachnamen nicht zu kennen, sie habe kein Gedächtnis für Namen. Das war ausnahmsweise geschwindelt, nebenbei, sie wußte genau Bescheid.
Herr Haag sollte für mich vorerst ein akustisches Phänomen bleiben. Als ich mit Manon zusammen war, hatte er Sorgen und bedurfte des ständigen Austauschs mit seiner Kundin. Als Friseur war er berühmt, eine Diva, und die Frauen, denen es gelang, auf seine Kundinnenliste zu kommen, was gar zu Intrigen und Beißereien herausforderte, waren ihm treu. Sie wollten sich das Leben ohne ihn ebensowenig vorstellen, wie ein Nierenkranker ohne Dialysegerät sein möchte. Aus seinen Händen empfingen sie nicht so sehr auffällige Kreationen, kühne Schnitte, gewagte Farben, als Sicherheit. Seine Behandlung bestand im buchstäblichen Sinn aus Handauflegungen. Hatte er sich ein oder zwei Stunden mit dem Kopf einer Frau befaßt, war sie den Kämpfen der Welt wieder gewachsen. Nicht gewachsen war dieser Welt allein er.
Haag war kein Geschäftsmann. Schon zweimal hatte ein von ihm organisierter Salon Bankrott anmelden müssen. »Herr Haag ist ein Künstler«, sagten seine Kundinnen, von denen manche noch weit über die hohen Rechnungen hinaus einzuspringen bereit waren. Aber Untergebener zu sein war noch weniger seine Sache als das Chefsein. Als Angestellter brachte er das soziale Gefüge eines großen Friseursalons durcheinander. Er gab seine Gastrolle und gab sie glanzvoll, und das Publikum strömte herbei, um seine Kunst zu bewundern, und der gesamte Friseursalon sollte nur ihm zu Diensten sein, nachdem er gerade als Schiffbrüchiger dort aufgenommen worden war. Gerade war wieder der Augenblick erreicht, in dem ihm das Zusammenwirken mit den anderen Friseuren im Salon Hölzle zur Pein wurde. Wir saßen bei einem späten Abendessen, als er Manon um Hilfe rief. Körperlich blieb sie vor mir sitzen, aber mit ihrer Seele war sie weit weg bei Herrn Haag; sie stützte ihren Ellenbogen auf, legte den Kopf in die Hand und ließ ihr Haar als Vorhang herabfallen, der sie vor mir verbarg. Aus Manon, die von allen heiklen Lebensvollzügen, vom Kampf ums Dasein so gründlich verschont war, wurde eine Ratgeberin in arbeitsrechtlichen Fragen.
»Er kann Sie deswegen nicht kündigen«, hörte ich hinter dem Haarschleier sagen, »wenn Sie wollen, können Sie morgen zum Anwalt meines Vaters gehen, dem besten Arbeitsrechtler der Stadt ... Nein, natürlich haben Sie das Recht, die Kundinnen, die Sie gebracht haben ... Bitte, Herr Haag, ich bin davon überzeugt, niemand hat Ihre Bürste versteckt, das war ein Versehen, das klärt sich auf ... Das Wichtigste ist jetzt, die Nerven zu behalten ... Jederzeit können Sie Hölzle verlassen, aber was dann? Wollen Sie etwa wieder zu Mezzina – natürlich wäre Mezzina überglücklich, aber haben Sie denn vergessen, warum Sie dort weggegangen sind? ... Sie machen sich jetzt einen schönen Fisch mit einer Weißweinsauce und trinken ein Glas
Weitere Kostenlose Bücher