Das Beben
Wein ...«
Schon aus diesen wenigen Kostproben sieht jedermann, wie zutiefst vernünftig und lebenszugewandt Manon hier vorging und wie klug sie die Lage sah. Hier waren auf einmal überhaupt keine Launen, keine Unergründlichkeit, keine zerstörerischen Anwandlungen. Herr Haag tat gut daran, ihr zu vertrauen und sie anzurufen, wobei sie wußte, daß sie keineswegs die einzige war, mit der er Rats pflog. Er selbst nannte ihr immer die Kundin, die das genaue Gegenteil vorschlug wie Manon. Es war auffällig, wie wenige Friedensstifter es in seinem näheren Kreis gab. Die meisten heizten an und genossen es, Herrn Haag zu furiosen Ausbrüchen zu reizen, nach denen er dann einen Tag das Bett hüten mußte. Bei Manon fand er Selbstlosigkeit, Aufrichtigkeit und Sicherheit. Sie beruhigte ihn, und sie erinnerte ihn daran, in welchen Situationen sie ihn früher beruhigt hatte: wie gut damals alles gegangen war und wie gut es auch jetzt wieder werden würde, wenn er ihr folgte. Man kann nicht behaupten, daß die Anrufe von Herrn Haag zu gelegener Zeit kamen. Sie störten meistens. Es war, als ahne er, wann Manon seelisch angewärmt war, um diese fruchtbare Energie in sein eigenes Bett umzuleiten.
»Hol mich bei Herrn Haag ab«, sagte sie eines Tages, nachdem ich mir schon ein ziemlich genaues Bild von seiner Erscheinung gemacht hatte. Ich stellte ihn mir sehr weiblich vor, klein und jung, ein Fliegengewicht, leicht von den Erschütterungen des Alltags zu bewegen, leicht, aber nur für kurze Zeit zu beeinflussen. Der Salon Hölzle lag im ersten Stock eines älteren Hauses. Seine Fenster gingen auf Kastanienkronen hinaus, ein Meer aus frischem Hellgrün umgab den Saal, in dem Wasser gedämpft in die Waschbecken rauschte und schwache Seifendüfte schwebten. Die Frauen in den Sesseln kannten einander und unterhielten sich, aber Manon wurden solche Unterhaltungen nicht zugemutet. Herr Haag empfing seine Kundin in einem Zelt. »Kundin« – das magische Wort, beinahe steckt schon Kundry oder der Name einer arabischen Sklavin von berückender Schönheit darin. Für Herrn Haag teilte sich die Welt in zwei Hälften: die seiner Freunde, Feinde, des Alltags und des Feiertags auf der einen Seite, auf der anderen aber die Kundin, das eigentlich ihm zugeordnete Gegenüber, seine eigentliche Heimat, seine wahre Entsprechung. Das Zelt, in das er sich mit Manon zurückgezogen hatte, war pfirsichfarben. In seiner Umgebung war alles auf Begünstigung und Verschönerung der weiblichen Erscheinung eingestellt. Im Licht des Pfirsichstoffs gossen sich milde, blühende Farbtöne auch über unfrische und kränkliche Frauen. Viele gelangten freilich nicht hinein in dieses Zelt. Die meisten sahen nur die französischen Sprudelwasserfläschchen und die winzigen Kaffeetassen, die dort hineingetragen wurden, um die Kundin während des langen Umwandlungsprozesses bei Laune zu halten. Ich war unsicher, ob mir schon das schöne Recht des Liebhabers zustand, solche Vorhang-Compartimente, wie auch in Kleidergeschäften, zu betreten und meine Meinung zu sagen. Fürchtete ich die Konkurrenz von Herrn Haag? Ich ließ mich also vor dem pfirsichfarbenen Vorhang nieder und betrachtete die Frauen, die im Saal frisiert wurden. Eine schlanke, von der Sonne braungegerbte Frau mit schwarz hängendem Haar folgte mit weit geöffneten Augen, in höchster Alarmiertheit, dem Weg der Schere in den Händen eines jugendlichen Friseurs mit spanischem Ziegenbart, die von den hoch über ihren Kopf gehobenen Haarsträhnen die Spitzen abschnitt. Haarkonfetti rieselte herab. Sie mußte zwinkern. Ihrer Miene war abzulesen, daß für sie das Haareschneiden ein Akt der Vivisektion war, ein Eingriff ohne Narkose. Sie gab sich dem bärtigen Jüngling in die Hand wie sonst nie einem Mann, und sie fühlte ihre Ausgeliefertheit und litt, obwohl er lächelnd auf sie einsprach und sie abzulenken versuchte.
Währenddessen vernahm ich nun zum erstenmal die Stimme von Herrn Haag, die meiner Vorstellung von ihm derart widersprach, daß ich kurz glaubte, vor der falschen Kabine zu sitzen. Er hatte den häßlichsten Dialekt, den ich kenne: das industriell verformte Pfälzisch von Mannheim und Ludwigshafen. Dieser Dialekt ist sehr schwer nachzuahmen, seine Lautquetschungen setzen Mund- und Lippenstellungen voraus, die einem vermutlich angeboren sein müssen. Kittelschürzen und Plastiktischdecken wehen durch dieses Ludwigshafenerische, dazu ein Jammern und Klagen. Ich erfuhr verblüfft, daß Herr
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