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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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kühn durch den Saal schweifen ließ.
    »Ein geheimnisvolles Buch«, sagte Manon. Sie sah Schmidts Roman vor sich, als sei er vollendet.
    »Keineswegs geheimnisvoll«, widersprach ich. Ein Geheimnis sei etwas anderes als ein solches exotistisches Puppentheater. Ein großes Haus etwa, mit beständig geschlossenen Fensterläden und niemals geöffnetem Haustor: Man hat die Person, die es bewohnt, noch nie zu Gesicht bekommen. Manchmal fällt gelbes Lampenlicht durch die Ladenschlitze. Einmal hat innen eine dunkle Stimme gesprochen, zugleich strahlte durch die Läden bläuliches Fernsehlicht. An einem eisklaren Wintervormittag stieg grauer Rauch aus dem Kamin. Dann plötzlich: alle Läden aufgeklappt, das Haustor sperrangelweit geöffnet und auf die Straße dringender Handwerkerlärm. Das Haus war ausgeweidet, die Türen ausgehängt, Tapeten in Fetzen, staubige, lumpige Möbel auf dem Korridor zusammengeschoben. In einem Zimmer mit weißlackiertem Eisenbett lag auf dem Boden eine geplatzte Schachtel, aus der gedruckte Briefumschläge quollen, kein Name stand hinten auf der Klappe, aber die Adresse überraschend luxuriös in Stahlstich.
    »Das ist ein Geheimnis, das den Namen verdient; ein solches Haus ist ein Roman«, sagte ich in dem Bestreben, durch meine eigene Doktrin den Eindruck, den Schmidt hinterlassen hatte, zu verwischen. »Und es muß auch gar kein Haus sein; es genügt, eine Tür in einer fremden Wohnung zu öffnen. Die Möbel stehen still und wie verdattert, der Schreck ist ihnen in die Holzbeine gefahren, und nun halten sie den Atem an und stellen sich tot, während man selbst kaum einen Schritt in den Raum wagt, die Hand auf die kühle Steinplatte einer Kommode legt und fühlt, wie sie sich erwärmt. Die Vorhänge bewegen sich. Die Tür schwingt leise im Luftzug. Und schon ist man wieder draußen, schon ist die Tür wieder geschlossen, und das Leben kann in das verlassene Zimmer zurückkehren.« Authentische Geheimnisse, die zur Literatur taugen, wohnten letztlich in jedem trivialen Quartier. Von der Straße aus erkenne man in der Dämmerung eines Zimmers einen über etwas gebeugten Menschen – Mann oder Frau? Wurde da geschrieben oder Zwiebeln gehackt oder ein Uhrwerk repariert? Dann ging im Hintergrund ein Licht an, und zugleich schlug die Tür zu.
    »Die meisten Dinge, die uns unbekannt bleiben, verdienen den Namen Geheimnis nicht«, sagte ich. »Die meisten Geheimnisse kann man irgendwie lüften, und dann sind sie eine Enttäuschung. Und Enttäuschung mag ich mit dem erhabenen Begriff des Geheimnisses nicht zusammenbringen. Ein Geheimnis, das diesen Namen verdient, muß seiner Natur nach unentschlüsselbar sein. Was ich mir vorstellen kann, habe ich schon zu mir herüber und in mich hinein geholt, da gibt es kein Geheimnis mehr.«
    »Ja, genau«, antwortete Manon. Sie gähnte, und das sah so niedlich aus, wie wenn junge Katzen gähnen. Sie war müde. Langweilte ich sie? Ich wußte, daß sie so viel Schlaf brauchte wie ein kleines Kind, aber sie war kein kleines Kind, sie war die Göttin des Schlafs. In leichter Benommenheit, wie gar nicht an mich, sondern im Schlaf zu sich selbst gesprochen, fuhr sie fort: »Es wäre so schön, wenn du mich morgen abend, wenn ich nach Hause komme, in meiner Wohnung erwarten würdest.«
    Und ohne wie sonst ihre Handtasche auskippen zu müssen, fand sie mit einem einzigen Griff ein Schlüsselbund und legte es vor mich. Ist es verwunderlich, daß ich alles, was an diesem Abend mißtönend gewesen war, augenblicklich vergaß?
    Bisher hatte ich ihre Wohnung nur betreten, um sie abzuholen. Es war eine geräumige Wohnung mit mehreren Türen in einem dunklen Flur, dessen Wandleuchter ausgebrannt waren, solange ich Manon kannte. Als ich allein im Finstern stand, fand ich mich nicht gleich zurecht. Ich hatte Blumen gekauft, mehrere Bunde Löwenmäulchen aus einem Eimer beim Gemüsehändler, eine rot-weiße und gelb-weiße wäßrige Fülle, deren Farben verschwammen und wie ländlicher Kunstmarmor aussahen, ein von einem Dekorationsmaler mit dicken Pinselstrichen hingewischter Strauß. Vielleicht waren diese Blumen in Manons Umgebung ein Fehler. In dieser Unordnung hätten frischere und festere Knospen einen deutlicheren Akzent gesetzt als die feucht-zerlaufenden Blütenflammen. Manon zog sich aus, wenn sie noch in der Haustür stand. Nah der Schwelle lagen ihre Schuhe, danach schlängelten sich aprikosenfarbene Strumpfhosen auf dem fleckigen Teppichboden, dann kam eine Bluse,

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