Das Beben
Heerzüge Alexanders des Großen waren Vorbilder jener Inszenierung des Jahres 1911, die aber Jahre vor der schmählichen und kopflosen Flucht der Briten aus Indien jede historische Reminiszenz in den Schatten stellte. Zur Gründung der englischen Kaiserstadt Neu Delhi war ein großer Teil der Truppen des Empire nach dem Pundjab befohlen worden. Die Truppenbewegungen begannen teilweise schon ein Jahr vor dem großen Tag. Am Tag des Durbars selbst nahm Georg V. eine Parade ab, die bei Sonnenaufgang begann und erst bei Sonnenuntergang endete. In Staubwolken wie beim Höhepunkt eines Sandsturms zogen Engländer und Australier, Kanadier und Afrikaner, Malaien und Ägypter, vor allem aber Armeen aus allen Völkern Indiens zu Fuß, mit Kanonen, auf Pferden, Kamelen, Elephanten, mit Trainwagen und Maschinengewehren am König vorbei. Gelb war die Luft, aus der immer neue Völker in immer neuen Uniformen geboren wurden, Schwarze trugen Bärenfellmützen, beturbante Sikhs marschierten im Schottenrock, Gardereiter ließen Brustpanzer und Säbel blitzen, als seien sie in Whithall in Kartons voll Watte gepackt und in Indien wieder ausgepackt worden. Es sollte der größte Heerzug der Geschichte werden, ein Bild der Macht, das allen Anwesenden die bloße Vorstellung, es könne unversehens alles auch wieder ganz anders aussehen, als die blanke Narretei erscheinen ließ.
Bei Maharao Saroop Singh, dem Großkönig von Sanchor, jedenfalls war dieser erwünschte, überwältigende Eindruck entstanden. Auf diesen König bezogen, waren die beträchtlichen Anstrengungen und Kosten des Unternehmens nicht vergeudet. Seit den ersten islamischen Eroberern hatten die Könige von Sanchor im Krieg gelebt, gegen die meisten Moguln mit ihrer Übermacht hatten sie ruhmreich gekämpft, hatten gegen sie intrigiert, trügerische Friedensverträge mit ihnen geschlossen, jeden schwachen Augenblick der Kaiser in Delhi hatten sie zu nutzen gewußt. Von Kämpfen bis zur Selbstaufgabe, massenhaftem Selbstmord des vor der Eroberung stehenden Volkes, aber auch von langen Perioden verhohlen feindseliger Kohabitation, von wechselseitigen Nadelstichen mit vergifteten Nadeln, Bündnissen voller Vorbehalte, steter Unterminierung der Feindesmacht war die Geschichte Sanchors voll. Aber selbst unter den Hammerschlägen des Moguls Aurangzeb, der in seinem Abscheu vor den Greueln der Heiden jeden alten Tempel in seinem Machtbereich vernichten lassen wollte, hatte Sanchors Herz – das Herz des Reiches war das Herz des Königs – nicht derart gezittert wie damals bei der nicht endenwollenden Parade auf dem Durbar von 1911. Hier zeigte sich, was Übermacht ist, die alles zerknicken und überwalzen kann, ohne selbst auch nur wahrzunehmen, welche Vernichtungsspur sie zieht. Alle indischen Könige, Großkönige, Herrscher, Nawabs und Nizams waren zu dieser Parade geladen. Sie sollten sehen, mit welchem Reich sie es zu tun hatten, nicht einfach nur wissen. Nach einer Rangfolge, die der Vizekönig Lord Curzon bestimmt hatte und die auf historische Anciennität wenig Rücksicht nahm, wurde jedem der Herrscher ein Thron zugewiesen, den er nach dem Tag der Parade zum Geschenk erhielt. Sanchors Thron war nicht der bescheidenste, aber vergoldet wie der des Nizam von Hyderabad, der in Edelsteinen baden konnte, war er nicht, er war aus poliertem schokoladefarbenen Holz. In die Rückenlehne war nach englischer Manier ein Wappenschild geschnitzt, das aussah wie das eines College-Sportclubs, und da herum rankte sich die Inschrift: »Durbar Delhi 1911«. Ein König konnte das Geschenk eines solchen Throns nur mit gemischten Gefühlen entgegennehmen. Zum Wesen des Throns gehört es, daß er ein Solitär ist, allenfalls im Himmel auf Wolken möchte man sich die zwölf Throne für die Apostel nebeneinander vorstellen. Aber in dem Zelt, in dem Georg V. als indischer Imperator aufgetreten war, hatten über fünfhundert solcher Throne gestanden. Der Durbar war ein Ereignis, das unvergeßlich war, an das man aber ungern dachte. Erst nachdem der Durbar-Thron aus Delhi mit der Eisenbahn angeliefert und im Salon des Monsun-Palastes zur Besichtigung der königlichen Damen aufgestellt worden war, die ihn sehr bewunderten und seine knorpeligen Beine und Armlehnen mit fragenden Mienen behutsam berührten, verlor er für den Maharao-Großvater ein wenig von seinem Hautgoût, aber im Alten Fort oder im Neuen Palast wollte er ihn dennoch nicht sehen. Es ist nicht klar, was genau er vorhatte, als er
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