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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Fürstenspiegel von frühester Kindheit an nahegelegt worden war – »Unnötigerweise«, pflegte er dazu anzumerken, »ich hatte es in meinen Adern« –, so war für Gopalakrishnan Singh sein Körper ein Fremder, mit dem ohne Ärger nie zurechtzukommen war. Der König schritt elastisch und sicher und prunkte gern mit jugendlicher Trainiertheit, während sein Bruder jeden Schritt unendlich schwierig fand, das Gehen war für ihn eine niemals vollständig gelöste, stets aufs neue überraschende Aufgabe. Seine Fußsohlen mochten samtweiche, rosige Säuglingshaut haben, schon in Schuhen schmerzen und bei jedem Schritt mißhandelt werden. Prinz Gopalakrishnan Singh ging wie auf rohen Eiern und blickte gequält um sich, bis er in einen Sessel gefallen war. Trotz seiner Stattlichkeit war er doch etwas dicklich. Das karierte Baumwollhemd verbarg wohl ein Bäuchlein aus edlem Schmer, obwohl er, wie ich an den folgenden Tagen bemerkte, die rituellen Montagsfasten einhielt, auch sonst wenig aß und vor allem auf Fleisch verzichtete, bemerkte aber, indem er sehr bedeutungsvoll um sich sah, daß es kein religiöses Gebot sei, das ihn vom Fleischgenuß fernhalte – es war sein eigener Kopf, der hier seinen Willen durchsetzte. Trotz der weichen Ebenmäßigkeit seiner Erscheinung war er sehr männlich. Er dachte gewiß wenig über seine Kleidung nach. Bei seinem Bruder war jeder Anzug wohl bedacht und entsprach dem Bild, das er von seinem Königtum hatte. Niemals sah man ihn in einem Anzug, der, so bescheiden er oft auch sein mochte, nicht die genaue Interpretation des Anlasses darstellte, zu dem er gewählt worden war. Jeder Anzug betonte die elegante Schlankheit und Größe des Königs. Seine alten und abgetragenen Anzüge bewiesen vor allem, daß er mit untadeliger Disziplin seit Jahrzehnten dieselbe Figur bewahrte, und dabei war nichts Verhärmt-Mageres an ihm, wie es für die schlanken Sechziger Europas bezeichnend ist. In meiner wachsenden Begeisterung für das Haus Sanchor sah ich in den beiden Brüdern die Extrempositionen des Aristokratischen verkörpert: vollständiges Formbewußtsein bei dem einen, vollständige Formgleichgültigkeit bei dem anderen; asketische Kondition bei dem einen, verwöhnte Schlappheit bei dem anderen; eifersüchtige Beobachtung aller königlichen Vorrechte beim einen und beim anderen zerstreute Verlegenheit, wenn er seinem Rang gemäß begrüßt wurde. Prinz Gopalakrishnan Singh war angesichts seiner Rolle von Ratlosigkeit erfüllt. Er war weit davon entfernt, das Königtum von Sanchor und die Königlichkeit seines Bruders auch nur in den leisesten Zweifel zu ziehen, aber er mußte sich eingestehen, daß ihm das ganze königliche Treiben nicht recht geheuer sei. Gut, die Krone lastete und ruhte auf seinem Bruder, der stark genug war, sie zu tragen, und deshalb mußte Gopalakrishnan Singh sich keine weiteren Sorgen machen, außer vielleicht einmal in finsterer Nacht mit Todesschreck in den Gliedern aus dem Schlaf zu fahren, weil er geträumt hatte, er selbst sei der König von Sanchor. Es verhielt sich auch gar nicht so, daß er für sich das Königtum ablehnte. Nur gelang ihm einfach nicht, sich unter diesem Amt, schon gar in seiner gegenwärtigen luftigen Gestalt, irgend etwas vorzustellen, was mit der eigenen Person zu tun hatte.
    Besonders deutlich wurde der Unterschied zwischen den Brüdern, wenn es ums Photographiertwerden ging; vor allem ihre Cousine, die Prinzessin von Kotah und ihre Töchter waren leidenschaftliche Photographinnen, die einen Pakt abgeschlossen zu haben schienen, jedes familiäre Zusammentreffen möglichst umfassend photographisch zu dokumentieren.
    Sah der König, daß sich eine Linse auf ihn richtete, nahm er Haltung an, wandte sich der Kamera zu und faßte sie streng und erhaben ins Auge. Er trat dann aus der Gesellschaft und ihrer Konversation oder vielmehr aus dem von ihm an die Gesellschaft gerichteten Monolog heraus und stellte sich dar. Man konnte den Eifer, mit dem er sich photographieren ließ, eitel nennen, aber wenn Eitelkeit hier als Laster im Spiel war, dann doch in den Dienst einer höheren Sache gestellt. Niemandem war mit unvorteilhaften Schnappschüssen vom König, von einem König in unköniglicher Zufälligkeit gedient. An ein Bild waren strengere Maßstäbe zu legen als an den Auftritt unter Menschen, der aus flüchtigen Augenblicken bestand und im Meer der Täuschungen unterzugehen bestimmt war. Das Bild aber blieb. Seine Aufgabe war, fernen

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