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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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festen Grenzen und von europäischen Völker- und Staatsrechtlern in gedankliche Formen gebrachter Souveränität und Eigenstaatlichkeit durchlaufen und in diesem Lauf bis zu seiner Auflösung in ebendiesem staatsrechtlichen Sinn gelangt war, bestand es fort in der persönlichen Treuebeziehung der Devasi zu dem einem ganz anderen Volk und einer ihnen unerreichbaren Kaste entstammenden König, und auch der König wurde durch diese neue Form seines Königseins, die an uralte Formen anknüpfte – ihm ohnehin die sympathischsten – geprägt. Seine Paläste wurden für ihn zu Vogelhäusern oder Bienenstöcken, deren starre Materialität er nur streifte. Es gab sie noch, aber sie näherten sich bereits dem Zustand der vielen spurlos untergegangenen Residenzen des Hauses von Sanchor, die nur als Namen fortlebten.
    Der Zettel in der Hand Virahs – eine breite, schwielige Hirtenhand, die bei dem zarten Körper überraschte – offenbarte, daß die Schreibmaschine, auf der schon im Neuen Palast die geheimnisvollen Ankündigungen mit böckchenhaft über das Papier springenden Großbuchstaben geschrieben worden waren, zum Monsun-Palast mitgereist war. Ich wartete inzwischen auf jeden neuen Zettel gespannt wie auf das Los, das ich in einer Schicksalslotterie zog.
    »Empfang bei Seiner Hoheit ist jetzt festgesetzt auf sieben Uhr a.m.«.
    Es sollte also eine Nacht vergehen, bis die Königssonne mir aufging. Der König wollte unsichtbar bleiben, hielt aber beständig die Verbindung mit mir. Mein Warten auf ihn war bereits ein wichtiger Teil unserer Begegnung. Der König wollte der Erwartete sein. Während ich wartete, herrschte er. Die eigentlichen Herrscherakte, an denen das Herrscherliche sichtbar wurde, der festliche Einzug in ein Dorf, die Ankunft und Begrüßung in einem Tempel oder im Palast, waren flüchtig und vorbei, kaum daß sie begonnen hatten. Auf sie folgte der Alltag, die Spannung ließ nach, die Gegenwart des Königs wurde zu etwas Vertrautem, ja Gewöhnlichem. Wie ging ein königliches Leben nach dem Einzug auf dem Schimmel durch eine eigens geschlagene Bresche in der Stadtmauer und nach Entgegennahme der auf Knien dargereichten Schlüssel eigentlich weiter? Wie war die Steigerung des königlichen Daseins auf Dauer durchzuhalten? Gerade die modernen europäischen Monarchen waren niemals so sehr König und Königin, wie wenn sie irgendwo vorfuhren, irgendwo ankamen, irgendwo ausstiegen und begrüßt wurden.
    Was hingegen ohne Verlust für den königlichen Glanz ausgedehnt werden konnte, war das Warten auf die Ankunft. Hier galt es nur kunstvoll die Spannung zu halten. Wenn überhaupt nicht feststand, daß der König kommen würde, konnte fatalistischer Gleichmut einkehren, dem unbedingt zu wehren war. Der König machte es mit mir schon richtig. In Gestalt der kleinen, aus dem Rechenheft geschnittenen Zettel seines Hofmarschallamts hielt ich schon ein Fetzchen vom königlichen Mantel in der Hand, und ich vertraute darauf, daß diese Verbindung zwischen uns nicht schwächer, sondern fest und zuverlässig werde.
    Kaum war Virah barfüßig verschwunden, hörte ich Schritte in meinem Vorzimmer. Es klopfte.
    Die Tür öffnete sich behutsam, als fürchte der Eintretende, daß Krokodile hinter ihr hausten. Ein großer Mann stand auf der Schwelle, hielt den Kopf geduckt und blickte gereizt und verstört auf den Boden. Betrat er dies Zimmer zum erstenmal? Aber warum sollte Prinz Gopalakrishnan Singh, der Bruder des Königs, alle Räume eines Palastes, den er bewohnte, betreten haben?
    Kein größerer Gegensatz als zwischen den beiden Brüdern war vorstellbar. Auch Gopalakrishnan Singh war ein hübscher Mann, aber in einer landläufigeren Art als sein Bruder, mit klaren regelmäßigen Zügen eines großen wohlgeformten Kopfes, dessen Haar silbern und schütter zu werden begann. Er war hochgewachsen wie sein Bruder, aber er schien sich in dieser Größe nicht wohl zu fühlen. Er hielt sich gebeugt, zog die Schultern hinauf und den Kopf ein, als bewege er sich ständig durch niedrige Gänge, während er doch ein Haus bewohnte, dessen niedrigste Decke sieben Meter hoch war. Gopalakrishnan Singh fror, wenn die Temperatur, wie jetzt, auf sechzehn Grad Celsius sank. Er trug eine dicke Windjacke und einen Schal und würde diesen Schal auch beim Essen nicht ablegen. Während für seinen Bruder die Herrschaft über die Körper und Seelen von Sanchor mit der Herrschaft über den eigenen Körper begann, wie es ihm aus einem alten

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