Das befreite Wort
see the light, they have to feel the heat.« 24
› Hinweis
(Wer nicht selbst vor Begeisterung brennt, dem muss man eben Feuer unterm Hintern machen.) In der modernen Welt kann dieses »Feuer« verschiedene Formen annehmen. Geht es um wirtschaftliche Probleme in Firmen, werden meist offene und versteckte Drohungen in Bezug auf die künftige Sicherheit des Arbeitsplatzes, auf eine etwaige Insolvenz des Unternehmens oder auf eine mögliche Übernahme durch einen Konkurrenten ausgesprochen, sofern das gewünschte Verhalten nicht erfolgt. In der Politik sind es andere Untergangsvisionen, die als Bestrafungsszenarien fungieren: »die andere Republik«, die der politische Gegner angeblich errichten will, in der es dann den eigenen Gefolgsleuten an den Kragen gehen wird; die schreckliche Steuerlast, die zu erwarten ist, oder auch – subtiler – die moralische Schuldenlast, die sich derjenige auflädt, der dem Appell nicht folgen mag.
Das Problem dieser rhetorischen Attacken, die mit Schein- und Ausschließlichkeitsalternativen im Sinne von »Entweder oder« bzw. »Schwarz oder Weiß« operieren: Sie führen zwar oft kurzfristig zum Erfolg, werden aber erkauft mit einem Gefühl der Aggression aufseiten der Zuhörer, weil diese natürlich spüren, dass sie – eigentlich – erpresst wurden. Ihre Zustimmung erfolgt zur Vermeidung von Strafe, nicht als positive Bejahung der vorgeschlagenen Haltung. Einem ebenfalls seit der Antike bekannten Topos der Rhetorik und Rhetorikkritik folgend, könnte man sagen: Sie sind bestenfalls überredet, keinesfalls überzeugt worden!
Was macht Heinrich vor Azincourt anders? Er geht den Weg des Gefühls! Das bedeutet: Bevor er zu seinen Soldaten redet, geht er in sich:
»I and my bosom must debate a while« 25
› Hinweis
Er nimmt sich die Zeit, Klarheit über den eigenen Standpunkt zu gewinnen und damit auch emotional mit sich ins Reine zu kommen. Erst von dort aus gelingt ihm in einem zweiten Schritt, Mit-Gefühl mit seinen Zuhörern zu entwickeln: Er scheut dabei nicht – mit seinem zweimaligen Besuch im Heerlager – beträchtliche Mühe, um deren Position wirklich zu verstehen.
Auch für moderne Redner und Rednerinnen hält dieses Beispiel eine wichtige Lektion bereit: Der Erfolg einer Rede beruht in erster Linie eben nicht darauf, wie die Rede selbst gestaltet ist, das heißt, wie die Inhalte und Argumente redaktionell präsentiert werden oder welche Gestik und Mimik benutzt wird. Sondern: Der Erfolg liegt wesentlich in der Haltung begründet, die sich im Redner vor dem eigentlichen Redeauftritt im Blick auf die Sache und vor allem zum Publikum gebildet hat. Erfolgreiche Redner kennen – intuitiv oder nach bewusster Reflexion – die Antworten auf die Fragen:
Wo stehe ich in Bezug auf die Sache?
Welche Haltung habe ich gegenüber den Zuhörern?
Was bewegt die Zuhörer?
Was will ich von ihnen?
Und schließlich: Wie kann ich meine Absicht mit ihren Absichten verbinden?
Der Abstimmungserfolg für Joschka Fischer auf dem erwähnten Parteitag etwa, aber auch die breite Zustimmung für Joachim Gauck, als er sich im Sommer 2010 um das Amt des Bundespräsidenten bewarb, sind wohl vor allem auf eine solche persönliche Klarheit in der Haltung zurückzuführen. Insbesondere im Falle Fischers lieferte die Rede ja keineswegs inhaltlich neue Argumente für oder gegen einen NATO-Einsatz im ehemaligen Jugoslawien. Wohl aber machte sie die Gewissensnöte nachvollziehbar, die in diesem Fall aus einer verantwortungsethischen Position resultieren. Die Rede vermittelte glaubhaft, dass auch der deutsche Außenminister in dieser Zeit die eine oder andere »dunkle Nacht der Seele« durchlebt hat. Vor allem deshalb war sie geeignet, den Verdacht des reinen Opportunismus, bloßer Leichtfertigkeit oder auch nur blinder »Bündnistreue« mindestens bei hinreichend vielen Zuhörern zu entkräften.
Andersherum ausgedrückt: Weniger erfolgreiche Redner und Rednerinnen sind sich über die moralischen und emotionalen Aspekte ihrer Redesituation gar nicht oder nur unzureichend im Klaren – insbesondere nicht über ihre oftmals negativen Gefühle gegenüber ihrem Publikum (wie z. B. auch der damalige Postchef im oben ausgeführten Beispiel). Das Problem: Diese negativen Gefühle strömen ihnen dann sozusagen »aus den Knopflöchern« und erzeugen beim Gegenüber zu ihrer großen Verwunderung – selbst bei positiven Inhalten – negative Wirkung.
Die zweite mögliche Erkenntnis aus der Rede des
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