Das befreite Wort
Welt hat diese Einschätzung einen so mächtigen und lang anhaltenden Nachhall gefunden wie in Deutschland. Immanuel Kant etwa stellte fest: »Rednerkunst ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen […], gar keiner Achtung würdig.« 40
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Siehe den Text im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog/?p=199
Und Dichterfürst Goethe textet im Faust:
Such Er den redlichen Gewinn.
Sei Er kein schellenlauter Tor.
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor;
Und wenn’s euch Ernst ist, was zu sagen,
Ist’s nötig, Worten nachzujagen? 41
› Hinweis
Ein Videomitschnitt der Passage aus der Inszenierung von Gustaf Gründgens am Hamburger Schauspielhaus (1960) auch im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog/?p=209
Das liest sich wie die mit dem Ruf nach Authentizität bis heute gerne aufrechterhaltene Abwehr gegen jede rhetorische Übung oder Vorbereitung, zu deren Exponent sich der frühere Bahnchef Hartmut Mehdorn machte, als er feststellte: »Ich bin Mehdorn. Kein Industrie-Schauspieler.« 42
› Hinweis
Sich nicht verstellen, nicht verbiegen, geradeheraus sein, natürlich und unverfälscht – dieses Idealbild des urtümlichen und im positiven Sinne ungebildeten Redners darf sich bis heute auf jene berufen, die ihre literarischen Helden zwar mit rhetorischen Meisterleistungen brillieren lassen, aber außerhalb der dramatischen oder epischen Fiktion über das wirkungsvoll gesprochene Wort nichts Gutes zu sagen wussten. In dieser rhetorischen Tradition ein Fortwirken des deutschen Genie-Gedankens zu erblicken, der aus dem Feld der Dichtung (insbesondere der des Sturm und Drang) in den Bereich der öffentlichen Rede übertragen wurde, ist eine ebenso naheliegende wie auch wohl richtige Vermutung.
Die Krux dabei ist, dass nicht nur die öffentliche Rhetorikrezeption in Deutschland im Banne des Genie-Kultes steht. Auch Rednerinnen und Redner selbst erliegen schnell der Verführung durch dieses janusköpfige Wesen. Sie erstreben – halb-, vor- und unbewusst –, was sie zugleich am meisten fürchten. Und sie fürchten, wozu es sie am stärksten drängt: den Auftritt als »Redner-Genie«. Wer sich in der Tradition des deutschen Genie-Kultes als Meister der Massensuggestion phantasiert – in den zeitgemäßen Verkleidungen freilich des Starverkäufers, des Mitarbeitermotivators, des Parteitags- oder Parlamentspathetikers –, der erschrickt nicht selten, wenn er sich auf der glänzenden Oberfläche seines inneren Spiegels in dieser Heldenrolle selbst erblickt. Sind so viel Glanz und Größe erlaubt? Zumal in Deutschland, wo rednerisches Genie vermeintlich schon einmal den Weg ins Verderben ebnete?
Schwer, aber dennoch meistens unerkannt lasten diese Fragen auf den Schultern deutscher Redner, sodass sie keinen leichten Stand haben an den Rednerpulten der Hörsäle und Kongresshallen, der Parlamente und Festsäle – wo es doch gerade dort auf den Standpunkt ankäme! Was muss geschehen, damit sie unter dieser Bürde aufrechter stehen und freier atmen können, damit es öfter eine Lust und seltener eine Last wird, deutschen Rednern beim Reden zuzuhören und zuzusehen?
Die Antworten der meisten Ratgeber für Rhetorik lauten: Tricks und Kniffe lernen und neurolinguistisch programmieren, Körpersprache einsetzen, besser atmen, Hypnosetechniken anwenden oder ganz einfach Schluss machen mit aller moralinsauren Trübsal und endlich ungehemmt Die Kunst der skrupellosen Manipulation 43
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Die gängigen Titel der einschlägigen Publikationen lesen sich wie Variationen der stets gleichen, fortwährenden Mythospflege im Fach Rhetorik: Die Macht der Rhetorik ; Manipulieren, aber richtig! ; Die Kunst, sich durchzusetzen oder Manipulative Rhetorik, verführende Rhetorik – wer unter seinem vermeintlichen Unvermögen zu reden leidet, wer mit Nervosität, Lampenfieber und Versagensängsten an den Rednerpulten kämpft, zu denen ihn Beruf, Zufall oder auch nur die Vereinsverpflichtung drängen, der sucht unter diesen Titeln Heilmittel gegen sein Leiden. Er muss freilich meist schnell erfahren, dass er versucht hat, die »Krankheit mit der Krankheit selbst« zu behandeln.
Denn das Leiden am »Mythos Manipulation« lässt sich nicht durch eine noch weitere Verfeinerung der rhetorischen Methoden heilen. Das bestätigt diesen Mythos und sichert sein Fortleben. Frei reden kann
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