Das befreite Wort
vielmehr nur, wer sich von diesem Mythos des »Unerlaubten und Falschen« befreit und beim Blick in den inneren Spiegel anstelle des kleinen hinkenden Mannes ein freundliches und liebenswertes Gesicht erblickt, das eigene Selbst. Das ist die Befreiung des Redners. 44
› Hinweis
Ihr vorausgehen und sie vorbereiten aber kann und muss eine Befreiung der Rhetorik selbst – die Befreiung von einem fundamentalen Missverständnis.
Diese Befreiung erfolgt im Wesentlichen über die Erinnerung – die Erinnerung an die Ursprünge der Rhetorik im sogenannten klassischen Altertum, wo das bis heute wirkungsmächtigste Erbe – das sokratisch-platonische Verdikt von der rhetorischen Schmeichelei und bloßen Überredungsgabe – keineswegs das historisch letzte Wort zur Sache war. Im Gegenteil, man könnte rückblickend sagen, dass die vernichtende Kritik Platons eigentlich nur ein Intermezzo darstellte: zwischen den gegenüber Wahrheit grundsätzlich skeptischen Sophisten und der Tradition, die sein Schüler Aristoteles begründete. Bis heute bezieht sich die seriöse, als Wissenschaft betriebene Rhetorik auf dessen Definition derselben. Sie lautet:
»Rhetorik ist die Fähigkeit, das Überzeugende,
das jeder Sache innewohnt, zu erkennen.« 45
› Hinweis
Dahinter steckt die nachplatonische Wende im Verständnis dessen, was »Wahrheit« bedeutet. Aristoteles holt sie aus dem »Himmel der Ideen« auf die Erde und verlegt sie in die Dinge selbst. Die »Meta-Physik« wird verabschiedet, mit ihm, der mit seinen Naturbetrachtungen zugleich die Naturwissenschaft begründete, rücken »Physis« und »Physik« in den Mittelpunkt philosophischen Interesses. Jede Erscheinung – ob Mensch, Blume, individuelle Biografie oder gemeinschaftliches Leben im Stadtstaat – trägt ihre Möglichkeiten in sich. Sie entfalten sich in wechselnden Formen, dabei stets einem geordneten Prozess folgend. In der Rede gibt der Mensch diesem Prozess sprachlichen Ausdruck. Sie ist die Kunst, in einer Angelegenheit oder Sache offen und verborgen angelegte Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen und so vorzutragen, dass sie als wirklich vorhandene Möglichkeiten sichtbar, glaubwürdig und wahrscheinlich werden.
Gelingt dies – unterstützt durch den Einsatz eines beschreibbaren und begrenzten Reservoirs kunstfertiger sprachlicher und formallogischer Instrumente –, so hat der Redende sein Gegenüber überzeugt. Diese Überzeugung erhebt keinen Wahrheitsanspruch, wohl aber einen redlichen (sic!) Anspruch auf Wahr-Scheinlichkeit, der eben nicht dasselbe ist wie eine Täuschung. Schon gar nicht liegt der Rede, nur weil ihre Aussagen nicht objektiv »wahr« sind (und nicht sein können!), eine Arglist zugrunde oder ist sie ein irgendwie »hinterlistiger« Betrug am Zuhörer, wie es Kant nahelegte (s. o.). Die Rede ist in ihren antiken Ursprüngen und ihrem dort begründeten Wesen nach eben nicht das, wofür sie die Titel und Thesen gängiger Ratgeber heute gerne ausgeben: Sie ist keine Zauberei oder Magie, die mithilfe eines geheimwissenschaftlichen Trickkästchens den Geist der Menge vernebelt.
Schon Aristoteles betonte, dass derlei ohnehin nur begrenzt möglich sei, und nahm damit moderne Erkenntnisse der Motivations-, Gehirn- und Sprachforschung vorweg: »Ferner ist es bei manchen Leuten nicht einmal dann, wenn wir das gründlichste Wissen hätten, leicht, aus diesem Wissen schöpfend, sie durch eine Rede zu überzeugen«, sagt er. Dahinter steckt die grundlegende Einsicht, dass sich die Wirkung einer Rede eben immer erst in der Interaktion von Redner und Zuhörern entwickelt. Erst beide Parteien zusammen konstituieren die Kommunikationshandlung. Mehr noch: »Der Zweck der Rede ist nur auf ihn, den Zuhörer, ausgerichtet. Ein Zuhörer muss mitdenken oder urteilen, urteilen entweder über Vergangenes oder Künftiges.« 46
› Hinweis
Diese Einsicht führt zu einem zentralen Lehrsatz. Er lautet: »Erfolgreiche Redner stehen immer auf der Seite ihres Publikums.«
Das freilich ist eine ungewohnte, häufig wahrscheinlich sogar unbequeme Erkenntnis für moderne Redner. Denn das haben die meisten doch anders gelernt: Wer öffentlich redet – so die gängige Auffassung –, tut dies doch, weil er andere von seinem Standpunkt überzeugen will, also die Zuhörer von der Seite, wo sie bisher standen, auf seine Seite hinüberziehen will. Welchen Sinn hat da der Lehrsatz von der »gleichen Seite«?
Die Illustration des folgenden Gedankens finden Sie im
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