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Das befreite Wort

Das befreite Wort

Titel: Das befreite Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sprong
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Kampfes«.
    All dies erschien den Zuhörern im Sportpalast höchst erstrebenswert, es erschien ihnen angesichts der Niederlage von Stalingrad als die einzig noch verbliebene Alternative zur ansonsten drohenden Niederlage des Deutschen Reiches und damit auch zum sicheren Ende der eigenen Biografie und zum Scheitern ihrer Lebensentwürfe. Der Berliner Germanist Jens Kegel schreibt dazu: »Auf eine kurze Formel gebracht lässt sich demnach für die meisten Zuhörer im Sportpalast schlussfolgern: Verlieren wir diesen Krieg, hatte mein Leben keinen Sinn. Gewinnen wir ihn, ist all das, woran ich glaube, richtig. Dies ist die wesentliche Ursache dafür, dass die Zuhörer im Sportpalast mit Vehemenz die Durchführung der Maßnahmen des totalen Krieges fordern.« 36
› Hinweis
    Die rhetorische Wirklichkeit im Deutschland des 21. Jahrhunderts steht ungeachtet dieser historischen Tatsachen noch immer weitgehend im Banne des selbstgeschaffenen »Mythos Manipulation«. Dafür gibt es freilich einen Grund: Der Mythos hatte und hat wohl immer noch eine für die Psyche wichtige Entlastungsfunktion. Wo der Mensch durch Gewalt gezwungen oder doch zum Mindesten durch Wort-Gewalt manipuliert und verführt wurde, da verringert sich entsprechend die eigene Verantwortlichkeit für das, was er tut oder lässt. Das heißt: Der Mythos Manipulation steht im Dienst der Abwehr zweier mächtiger Gefühle, der Gefühle von Schuld und Scham.
    Diese Erkenntnis ist für das Verständnis der zeitgenössischen Redewirklichkeit ebenso unverzichtbar wie für jedes Unterfangen, das auf die Verbesserung dieser Redesituation im individuellen wie kollektiven Kontext abzielt. Wohl kaum allerdings würde diese Abwehr noch heute die Redewirklichkeit in Deutschland prägen, wenn sie nur eine Abwehr von Schuld- und Schamgefühlen wäre, die aus der nationalsozialistischen Vergangenheit des Landes herrührten. Die Schuld(-angst) und Scham(-angst) werden vielmehr aus zwei weiteren Quellen gespeist, die wesentlichen Anteil daran haben, dass diese Gefühle zum beherrschenden, wenn auch verdeckten Tiefenproblem des Redens in der Öffentlichkeit werden.
    Die erste Quelle liegt in der individuellen seelischen Entwicklung jeder Rednerpersönlichkeit und zentriert sich um die narzisstischen Wünsche von Größe, Bedeutung und Macht. In dieser Perspektive erscheint dann die diabolische Gestalt des Joseph Goebbels als geradezu zwanghaft festgehaltene Projektionsfläche für das Verbotene der eigenen rhetorischen Heldenträume. 37
› Hinweis
    Siehe zur stets wiederholten Inszenierung des Rhetorischen im Kontext des Heldenhaften auch im Film die Sequenz »Helden-Rede« im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog/?p=216
    Die zweite Quelle liegt in der kollektiven historischen Rhetorikrezeption und zentriert sich um einen generellen moralischen Vorbehalt gegen alle Rhetorik, der sich auf eine lange abendländische Tradition berufen kann, in Deutschland – lange vor Goebbels und Hitler – besonders gepflegt wurde und – als bildungsbürgerliches Ressentiment – noch immer wirksam ist. Als Kronzeugen können sich die Verfechter dieser Ressentiments auf keinen Geringeren berufen als den antiken Denker Platon. Eine »Schmeichelei« sei die Redekunst allenfalls, lässt der Philosoph seinen Sokrates schon im Dialog Gorgias 38
› Hinweis
sagen, »gar keine Kunst«, sondern eine Fertigkeit, vergleichbar der Kosmetik oder dem Kochen. Niemals diene sie dem Wahren, höchstens dem Wahrscheinlichen, vor allem aber werde sie dazu verwendet, mit Nicht-Wissen vor den Unwissenden zu reüssieren.
    Den Text des Gorgias finden Sie auch im Blog zum Buch unter:
http://www.nicolai-verlag.de/das-befreite-wort-blog/?p=184
    Dahinter steckt die platonisch-idealistische Konstruktion vom absolut »Wahren, Schönen und Guten«, das sich freilich aus der Perspektive des Durchschnittsmenschen, der nach dem berühmten Höhlengleichnis Platons lediglich die schattenhaften Abbilder der Ideen zu erkennen vermag 39
› Hinweis
, nicht erschließe. Lediglich für den Philosophen, der die »Sonne der Wahrheit« außerhalb der Höhle geschaut hat, ist die reine Idee des Wahren ersichtlich, versteh- und lehrbar – dann freilich auch mit Hilfe der Rhetorik. Aber nur in der Rede des Weisen erfüllt sie ihren guten Zweck, in allen anderen Fällen gilt leider: Wo geredet wird, ist die Wahrheit weit. Und wo die Wahrheit abwesend ist, ist es finster.
    Nirgendwo sonst auf der

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