Das befreite Wort
Helmut Kohl mit Bezug auf den damaligen Kreml-Chef Michail Gorbatschow feststellte, dieser sei ein »moderner kommunistischer Führer«, der »etwas von PR verstehe«, um dann nachzuschieben: »Der Goebbels verstand auch was von PR« 31
› Hinweis
? Und hatte nicht schon ein Jahr zuvor Willy Brandt über den damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler gesagt, dieser sei »seit Goebbels der schlimmste Hetzer im Land« 32
› Hinweis
? Das zeigt: Wer in Deutschland einen anderen ins Mark treffen, wer dessen rhetorische Kunst entzaubern will, und zwar in der Absicht, das Gesagte als »gefährlich« und »verderblich«, vor allem aber den Sprechenden selbst als »verlogen« und »verführerisch« zu brandmarken, der greift zur Goebbels-Keule. Die trifft immer.
Dass sie das kann, beruht freilich auf einem weitverbreiteten und zugleich aufschlussreichen Missverständnis. Der Kern dieses Missverstehens ist zugleich ein wichtiger Schlüssel für die Erklärung des rhetorischen Unbehagens in der öffentlichen Redekultur der zweiten deutschen Republik. Es ist das Missverständnis, genauer: der Mythos der Manipulation.
Denn dies ist es, was im Zentrum des Sportpalast-Traumas steht: der Mythos vom demagogischen Manipulator, dem es mit rhetorischen Kunstgriffen gelingt, eine nach Tausenden zählende Menge von grundsätzlich vernunft- und verstandesbegabten Zuhörern in eine Begeisterung für ein Ziel zu treiben, das nicht anders als höchst irrational, moralisch verwerflich und einfach dumm zu bezeichnen ist: das Ziel des »totalen Krieges«. Niemals – so die landläufige Lesart dieser Rede – würden doch die Menschen von sich aus einem solchen Vorhaben zugestimmt, niemals gar es mit Begeisterung verfolgt und sogar ins Werk gesetzt haben, wenn sie nicht von diesem »Meisterstück der Demagogie«, der »diabolischen Propaganda« 33
› Hinweis
dorthin gedrängt und zum Schrecklichen »verführt« worden wären.
Dass all dies an der historischen und rhetorischen Wirklichkeit der Sportpalastrede vorbeigeht, ist eine schwer zu vermittelnde Einsicht. Dabei belegen wissenschaftliche Untersuchungen, die die sprachlichen, psychologischen und historiografischen Aspekte der Rede berücksichtigen, dass sie eben kein Musterbeispiel von Manipulation darstellt. 34
› Hinweis
Denn:
Sie wurde vor geladenen und handverlesenen Anhängern des Regimes gehalten, die weder »überzeugt« noch »überredet« oder sonst wie »manipuliert« werden mussten. Vielmehr repräsentierten sie durchweg eine »Gemeinde der Gläubigen«, die willig und folgsam den religiös gefärbten rhetorischen Ritualen und Rahmeninszenierungen im Sportpalast huldigte. Die Rede gehört – gemessen an den Klassifikationen der Antike – eben nicht dem genos symboleutikon an, war also ihrem ganzen Wesen und ihren Umständen nach keine Überzeugungsrede, die auf eine bestimmte Entscheidung des anwesenden Publikums in einer noch nicht entschiedenen Sache abzielt. Sie zählt vielmehr zum genos epideiktikon 35
› Hinweis , zum Typus der Prunk-, Fest- oder Lobreden, ging es bei ihr doch darum, eine ohnehin bestehende Übereinstimmung zwischen Redner und Publikum zu festigen und zu legitimieren.
Sie wurde deshalb in einem »Setting« gehalten, das als Sportstätte die emotionale Akklamation – heute würden wir sagen: die Mitmachkultur im Sinne eines feststehenden Skriptformats »Kundgebung« – von vornherein nicht nur wahrscheinlich machte, sondern diese sogar verlangte.
Sie formulierte in der inhaltlichen Zielsetzung – aus der zeitgenössischen Sicht der nationalsozialistisch gesinnten Zuhörerschaft – mit dem »totalen Krieg« eben nicht (wie es uns heute scheint) etwas gleichsam noch Schlechteres als das ohnehin Schlechte bzw. etwas noch Unvernünftigeres als das ohnehin Unvernünftige. Stattdessen verhieß die geforderte Totalisierung des Krieges den Zuhörern damals ein baldiges Ende desselben, vor allem aber ein siegreiches Ende. Wie denn auch das einzige Spruchband auf der Veranstaltung die Quintessenz der Rede in die Formel goss: »Totaler Krieg – kürzester Krieg.«
Hinzu kam, dass der »totale Krieg«, also die umfassende und rücksichtslose »Mobilisierung der Heimatfront«, nun die von vielen »Volksgenossen« seit Langem erwartete Einlösung des sozialistischen Teils der nationalsozialistischen Ideologieversprechen ankündigte, nämlich die Überwindung der bürgerlichen Klassengegensätze im Zeichen des gemeinsamen »völkischen
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