Das Beil von Wandsbek
zu den Nazis heruntergekommen ist und Frau Förster-Nietzsche dem Führer einen Spazierstock ihres zum Glück wehrlosen Bruders überreichen durfte.« Frau Mengers gab dem jungen, kahlköpfigen Doktor die Hand. »Gegen Irland spricht vieles, vor allem der Regen«, lächelte sie, »aber seit man mir in meinen Paß ein rotes J stempelte und mich zur Sarah von Goebbels Gnaden ernannte ... Wir Israeliten hätten besser daran getan, unkte mein Sohn immer, unsere künstliche Isolierung freiwillig aufzugeben und den Messias anzuerkennen, zumal die Welt doch so gründlich erlöst aussieht. Finden Sie nicht?« Dr. Plaut zog die Schultern empfindlich zusammen,als werde er geschlagen. Die Tür öffnete sich von außen, der Scharführer Boje stand auf der Schwelle, legte die Hand an die Mütze und meldete: »Fertig. Bitte bestätigen Sie uns die Abschrift, Frau Mengers.«
Die beiden Herren gingen indes langsam die Treppen hinab – niemand freute sich darauf, in den kalten Regen hinauszutreten. Sie schlugen die Kragen hoch, knöpften sich fest ein, bereiteten ihre nassen Schirme zum Öffnen vor. »Auswandern in unseren Jahren – keine Kleinigkeit. Wer reißt sich leicht aus dem Boden, aus welchem er gewachsen ist.«
»Frau Mengers findet immerhin ein Heim, sobald sie das Schiff verläßt.« – »Wird sie das Gefühl je los werden, ihrem Sohn zur Last zu fallen?« setzte Dr. Plaut seinen Gedanken fort. »Im Märchen von Sindbad dem Seefahrer haben die Orientalen recht glücklich dargestellt, wie sich die Alten auf den Schultern der Jungen ausnehmen.« – »Ja«, nickte Dr. Kley und nestelte an seinem Schirm, »hinaus in die Ferne. Man setzt sich aufeinander und verengert sich die Zimmer. Unvermeidlich lernt man einander hassen.« Dr. Plaut zögerte vor der Haustür, die Klinke in der Hand. »Die russischen Emigranten, erinnern Sie sich noch, sie wärmten einander, fanden sich. Priesen sich glücklich, der Heimat entronnen zu sein. Der Sowjethölle, wie sie sie nannten.« – »Lieber Doktor«, bat Kley, »ich habe eine Verabredung; aber sie sehnten sich doch alle zurück, nicht wahr? So wird es auch uns gehen.« – »Kunststück«, erwiderte Dr. Plaut und öffnete die Tür, »uns! So schlimm wie den russischen Bürgern kann’s uns doch nie gehen. Kriegen wir auch mal schlechtes Wetter, so bleibt uns doch immer der Regenschirm, der warme Mantel und das gemütliche Hamburger Heim mit dem warmen Kachelofen. Falls Sie nichts Besseres vorhaben, ich zünde bei mir die Chanukahkerzen um halb fünf Uhr an. Das 5698. Jahr seit Erschaffung der Welt.« Dr. Kley drehte sich um, lachte unter seinem Regenschirm und rief: »Glücklicher Mann! Wir zählen da nach Jahrmillionen.«
Zweites Kapitel
Dankbare Schuldner
Käte Neumeier freute sich, als Koldewey sie anrief. Inmitten ihrer Tagesarbeit gestand sie sich einigermaßen erstaunt, daß ihre Beziehung zu diesem Hause sich im ganzen verlagert hatte. Von Annette war sie verwunderlicherweise ganz auf den Vater übergegangen, diesen Mann, der es leicht gehabt hätte, naiven Vorstellungen gemäß, Menschen entweichen zu lassen, Gefangene, die er selbst für unschuldig der Verbrechen hielt, um derentwillen sie getötet werden sollten und wurden, und dem sie sein Verhalten keinen Augenblick anrechnete und verübelte. Ja, während sie vormittags den Urin einiger Patienten chemisch untersuchte und dabei vom Postboten unterbrochen wurde, der einen eingeschriebenen Brief aus Buenos Aires nur gegen ihre eigenhändige Unterschrift auslieferte, ging ihr auf, daß diese Nachsicht gegen Herrn Koldewey, dies Verständnis für seine Duldsamkeit und überlegene Haltung, guten Grund in ihr selber besaß. Ein Zuchthausdirektor konnte möglicherweise die Entweichung eines Gefangenen begünstigen. Aber eine Besucherin, der wirklich an der Befreiung dieses Häftlings gelegen hätte, mußte auf einen gewissen Vorschlag, fünfhundert Mark und ein Motorrad einschließend, anders reagieren, als sie es getan. Gewiß, sie besaß weder die Banknoten noch das Motorrad. Vielleicht wäre es ihr auch nicht gelungen, sie zu beschaffen. Aber einen solchen Vorschlag mit so realistischer Sicherheit abzulehnen, ihn zu verwerfen, als könnte dergleichen nicht in Frage kommen, das entsprach von der anderen Seite her ziemlich genau Herrn Koldeweys philosophischer und moralischer Überlegenheit – mach dir nichts vor. Sie waren Mitschuldige, sie beide, an dieser Blütezeit des Dritten Reiches. Und sie würden die Kosten nicht
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