Das Bernstein-Teleskop
hatte ständig abgenommen, als ob eine sterbende Sonne ihre letzte Kraft verlieren würde.
Was sich ihnen aber jetzt darbot, wirkte ähnlich, nur noch unheimlicher, denn die Konturen der Dinge begannen ebenfalls zu verschwimmen ...
»Es ist nicht so, als ob wir blind würden«, sagte Lyra ängstlich, »weil wir ja noch alles sehen können. Aber die Dinge selbst verschwinden nach und nach.«
Die Welt verlor langsam alle Farbe. Ein fahles Grün-grau ersetzte das saftige Grün von Blättern und Gräsern, ein fahles Sand-grau das kräftige Gelb eines Kornfeldes und ein stumpfes Rot-grau das Ziegelrot eines schmucken Bauernhauses.
Den jetzt näher herangekommenen Menschen fiel ebenfalls auf, was um sie herum geschah. Sie zeigten hierhin und dorthin und hielten sich an den Armen, um sich gegenseitig zu bestärken.
Das einzig Bunte in der ganzen Landschaft waren die in kräftigem Rot, Gelb und Blau schillernden Libellen mit ihren kleinen Reitern und Will und Lyra mit Pantalaimon, der in Falkengestalt über ihnen kreiste. Sie hatten jetzt die Ersten aus der Menschenreihe erreicht, und nun konnte kein Zweifel mehr bestehen: Das waren Geister. Will und Lyra taten zögernd einen Schritt auf sie zu, doch Angst brauchten sie keine zu haben, denn die Geister fürchteten sie weit mehr und wichen jeder Annäherung sofort aus.
»Habt keine Angst«, rief Will. »Wir tun euch nichts. Wohin geht ihr?« Sie schauten auf den Ältesten unter ihnen, der ihr Führer zu sein schien.
»Wir gehen dorthin, wohin auch alle anderen gehen«, erklärte der Mann. »Es scheint so, als kennte ich den Weg, obwohl ich mich nicht erinnern kann, jemals von ihm erfahren zu haben. Er scheint die Straße hinunterzuführen. Wir werden es wissen, wenn wir erst einmal dort sind.«
»Mama«, fragte ein Kind, »warum wird es denn am helllichten Tag dunkel?«
»Still, mein Kleiner, mach dir keine Sorgen«, gab ihm die Mutter zur Antwort. »Durch Sorgen wird nichts besser. Wir sind jetzt tot, nehme ich an.«
»Aber wohin gehen wir dann?«, bohrte das Kind weiter. »Ich mag nicht tot sein, Mama!«
»Wir gehen Großvater besuchen«, sagte die Mutter verzweifelt.
Doch das Kind ließ sich nicht trösten und weinte heiße Tränen. Manche aus der Gruppe betrachteten die Mutter mit Anteilnahme, andere verhehlten nicht ihren Verdruss, doch Hilfe war nicht möglich, und so wanderten alle trübselig durch die fahle Landschaft, während das Gewimmer des Kindes kein Ende nehmen wollte.
Der Chevalier hatte mit seiner Gefährtin gesprochen, ehe er allen vorausflog. Will und Lyra schauten der Libelle hinterher, dem einzigen kräftigen Farbtupfer weit und breit. Dann landete die Lady mit ihrem Insekt auf Wills Hand.
»Der Chevalier möchte auskundschaften, wie es weiter vorn aussieht«, sagte sie. »Wir glauben, dass die Landschaft allmählich verschwindet, weil diese Menschen sie vergessen. Je weiter sie sich von ihren Häusern entfernen, desto dunkler und farbloser wird es werden.«
»Aber warum sind sie denn überhaupt unterwegs?«, sagte Lyra. »Wenn ich ein Geist wäre, würde ich dort bleiben wollen, wo ich mich auskenne, statt loszuwandern und womöglich verloren zu gehen.«
»Vielleicht«, mutmaßte Will, »fühlen sie sich da, wo sie gestorben sind, unglücklich, fürchten sich davor.«
»Nein«, sagte die Lady. »Irgendetwas zieht sie mit Macht an und treibt sie auf die Straße.«
Und tatsächlich gingen die Geister jetzt, da sie ihre Häuser nicht mehr sehen konnten, viel zielgerichteter ihren Weg. Der Himmel hatte sich wie vor einem Sturm verfinstert, doch fehlte die Elektrizität, die vor einem Gewitter die Luft auflädt. Die Geister schritten weiter die gerade Straße entlang, die durch eine konturenlose Landschaft führte. Hin und wieder schielte einer von ihnen zu Will oder Lyra hinüber oder schaute der schillernden Libelle mit ihrem Reiter hinterher, so als hätte er noch einen Funken Neugier in sich. Schließlich sagte der Älteste:
»Ihr da, der Junge und das Mädchen. Ihr seid doch nicht tot und folglich keine Geister. Warum kommt ihr dann überhaupt mit uns?« »Wir sind aus Zufall hier«, sagte Lyra, noch bevor Will antworten konnte. »Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Wir versuchten vor den Soldaten zu fliehen, und dann fanden wir uns hier wieder.«
»Woher wissen Sie, wann Sie am Ziel angekommen sind?«, fragte Will.
»Ich nehme an, dass man es uns sagen wird«, antwortete der Geist zuversichtlich. »Man wird die Sünder von den
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