Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
schaukelnden Glühbirne erleuchtet wurde. Will legte eine Hand an die Messerscheide an seinem Gürtel. Eine Gruppe dieser Wesen hielt sich draußen auf, hockte zusammen und spielte mit Würfeln. Als die Kinder näher kamen, standen sie auf: Fünf Männer in abgetragener Kleidung, die Gesichter im Schatten, und keiner sagte ein Wort.
    »Wie heißt diese Stadt?«, fragte Will.
    Keine Antwort. Einige von ihnen wichen einen Schritt zurück, und alle fünf rückten näher zusammen, so als ob sie Angst hätten. Lyra spürte einen Schauer im Rücken und alle Härchen an ihren Armen sträubten sich, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Unter ihrem Hemd zitterte Pantalaimon und flüsterte: »Nein, Lyra, geh fort, lass uns doch umkehren, bitte ... «
    Die fünf standen reglos da, daher sagte Will nur achselzuckend: »Na, dann noch einen schönen Abend«, und ging weiter. Auch alle anderen Gestalten, die sie ansprachen, blieben stumm, und von Mal zu Mal wuchs die Angst der Kinder.
    »Will, sind das Gespenster?«, sagte Lyra. »Sind wir schon alt genug, um diese Wesen sehen zu können?«
    »Das glaube ich nicht. Wenn wir das könnten, würden sie uns angreifen, doch sie scheinen selbst Angst zu haben. Ich habe keine Ahnung, wer sie sind.«
    Eine Tür ging auf und Licht fiel auf den schlammigen Boden. Ein Mann - ein echter Mensch - stand auf der Schwelle und beobachtete, wie sie näher kamen. Die kleine Traube von Gestalten, die vor der Tür gestanden hatte, zog sich wie aus Respekt zurück. Nun sahen sie das Gesicht des Mannes: ein kräftiges, harmloses Antlitz.
    »Wer seid ihr?«, fragte er die Kinder.
    »Reisende«, sagte Will. »Wir wissen nicht, wo wir sind. Was ist das für eine Stadt?«
    »Das ist das Auffanglager«, sagte der Mann. »Kommt ihr von weit her?«
    »Ziemlich weit, ja, und wir sind müde«, sagte Will. »Können wir etwas zu essen und eine Unterkunft bekommen? Wir zahlen auch.«
    Der Mann schaute an ihnen vorbei ins Dunkle, dann trat er vor die Tür und schaute sich um, als ob er jemanden vermisse. Danach wandte er sich an die seltsamen Gestalten vor der Hütte und fragte:
    »Habt ihr einen Tod gesehen, irgendeinen?«
    Sie schüttelten den Kopf, und die Kinder hörten ein schwaches »Nein, keinen einzigen«.
    Der Mann drehte sich wieder um. Hinter ihm schauten mehrere Gesichter aus der Tür: eine Frau, zwei kleine Kinder und ein weiterer Mann. Sie machten alle einen nervösen und ängstlichen Eindruck.
    »Einen Tod?«, sagte Will. »Wir bringen keinen Tod.«
    Doch eben das schien ihnen Sorge zu bereiten, denn während Will sprach, kam ein Ausruf des Staunens aus der Gruppe der Lebenden, und sogar die Gestalten draußen wichen erschrocken ein wenig zurück. »Entschuldigung«, meldete sich Lyra zu Wort und trat mit einem Knicks vor, als ob sie der Hausvater des Jordan College finster angeschaut hätte. »Es lässt mir keine Ruhe, aber diese Männer da, sind sie tot? Die Frage ist vielleicht taktlos, aber dort, woher wir kommen, gibt es solche Gestalten nicht. Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich unhöflich bin, aber in meiner Welt haben wir Dæmonen, jeder besitzt einen Dæmon, und wir wären schockiert, wenn wir jemanden ohne Dæmon sähen, so wie Sie über uns schockiert sind. Auf meinen Reisen mit Will - das hier ist Will, und ich heiße Lyra - habe ich nun erfahren, dass es auch Menschen gibt, die keinen Dæmon zu haben scheinen, wie zum Beispiel Will. Darüber war ich anfangs entsetzt, bis ich erkannt habe, dass auch sie Menschen sind wie ich. Deshalb könnte auch jemand aus Ihrer Welt nervös werden, wenn er uns sieht und glauben muss, wir seien anders als er.«
    Der Mann sagte: »Lyra und Will?«
    »Ja«, bestätigte Lyra.
    »Sind das da eure Dæmonen?«, fragte er weiter und zeigte auf die Spione auf ihren Schultern.
    Lyra verneinte und war versucht zu erklären, das seien ihre Diener, doch sie ahnte, dass Will das nicht für klug gehalten hätte. Deshalb sagte sie: »Das sind unsere Freunde, Chevalier Tialys und Lady Salmakia, vornehme und kluge Menschen, die mit uns reisen. Ja, und das ist mein Dæmon«, sagte sie und holte Pantalaimon, nun als Maus, aus der Tasche. »Wie Sie sehen, kommen wir in freundlicher Absicht, wir wollen Ihnen nicht übel. Wir brauchen nur etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen. Morgen ziehen wir weiter, Ehrenwort.«
    Alle warteten nun auf eine Antwort. Lyras demütiger Ton hatte den Mann ein wenig beruhigt. Auch die Spione waren klug genug, sich bescheiden und

Weitere Kostenlose Bücher