Das Bernstein-Teleskop
die Straße weiter nach links und gebt diese Papiere dem Beamten am Tor.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Lyra. »Nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich frage, aber wie können wir so weit gekommen sein, wenn wir nicht tot sind? Denn das hier ist doch die Welt der Toten, oder?«
»Wir befinden uns hier in einer Vorstadt der Welt der Toten. Manchmal kommen Lebende aus Versehen bis hierher, und dann müssen sie im Auffanglager warten, bis sie weitergehen können.«
»Wie lange müssen sie warten?«
»Bis sie tot sind.«
Will schwirrte der Kopf. Er sah, dass Lyra gerade etwas erwidern wollte. Noch bevor sie sprechen konnte, fragte er: »Können Sie uns erklären, was dann mit den Geistern geschieht, die hierher kommen. Bleiben sie für immer in der Stadt?«
»Nein, nein«, sagte der Beamte. »Das hier ist nur ein Transithafen. Von hier aus fahren sie mit dem Schiff weiter.«
»Und wohin?«, fragte Will.
»Das kann ich euch nicht sagen«, sagte der Mann und verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Lächeln. »Ihr müsst jetzt weitergehen, bitte. Ihr müsst in das Auffanglager.«
Will nahm die Papiere in Empfang, die ihm der Mann reichte, dann legte er seine Hand auf Lyras Arm und zog sie weiter. Die Libellen flogen nur noch kraftlos, und Tialys erklärte, sie brauchten dringend Ruhe. Will nahm die Insekten auf seinen Rucksack, und Lyra trug die beiden Spione auf den Schultern. Pantalaimon, wieder ein Leopard, schaute neidisch zu ihnen hoch, sagte aber nichts. Sie gingen die Straße weiter, vorbei an Slumhütten und Jauchegruben, und betrachteten den nicht enden wollenden Strom neu ankommender Geister, die ohne Behinderung in die Stadt gelassen wurden.
»Wir müssen über das Wasser, wie die anderen auch«, sagte Will. »Vielleicht können uns die Leute in dem Auffanglager einen Weg zeigen. Sie scheinen nicht unfreundlich oder gefährlich zu sein. Das ist schon merkwürdig. Und erst diese Papiere ...«
Bei den Dokumenten handelte es sich lediglich um lose, aus einem Notizblock gerissene Blätter, auf denen ein paar mit Bleistift hingekritzelte und dann durchgestrichene Wörter standen. Man konnte den Eindruck gewinnen, die Leute hier spielten ein Spiel und warteten, wann die Reisenden protestieren, aufgeben oder loslachen würden. Und doch sah alles so real aus ...
Allmählich wurde es dunkler und kälter, aber wie lange sie schon marschierten, war schwer abzuschätzen. Lyra dachte, es könnte eine halbe Stunde sein, vielleicht aber auch doppelt so lange. Die Gegend sah immer gleich aus.
Schließlich kamen sie an eine kleine Holzbaracke, die ähnlich wie die bei ihrem ersten Halt aussah. Eine nackte Glühbirne an einer Schnur verbreitete trübes Licht über dem Eingang.
Bei ihrer Ankunft trat ein Mann, wieder im grauen Anzug, aus der Baracke. In der Hand hielt er ein Butterbrot. Ohne ein Wort zu sagen schaute er auf die Papiere und nickte. Er gab Will die Dokumente zurück und wollte schon wieder hinein gehen, als Will ihn fragte: »Entschuldigen Sie, aber wohin sollen wir jetzt gehen?«
»Sucht euch irgendwo eine Unterkunft«, antwortete der Mann keinesfalls unfreundlich. »Fragt einfach. Alle warten hier, genauso wie ihr.«
Dann wandte er sich ab und schloss zum Schutz vor der Kälte die Tür hinter sich. Die Reisenden gingen ins Zentrum des Auffanglagers, wo die Lebenden warten mussten. Hier sah es ähnlich aus wie in der eigentlichen Stadt: Armselige kleine Hütten, ein Dutzend Mal mit Plastikfolie oder verrostetem Blech geflickt und mehr oder weniger zufällig aneinander gelehnt, säumten schlammige Lagerwege. An manchen Stellen hing ein Kabel von einem Verteilermast und gab elektrischen Strom für ein oder zwei Glühbirnen in den Hütten daneben. Die meiste Helligkeit spendeten aber offene Feuer. Das flackernde Licht und der Rauch zwischen den Trümmern und schiefen Hütten vermittelten den Eindruck, als züngelten hier die letzten Flammen eines großen Brandes, der aus purer Bosheit noch anhielt.
Beim Näherkommen erkannten Will, Lyra und die Gallivespier dann auch Einzelheiten.
Sie entdeckten weitere Gestalten - teils einzeln im Dunkeln an Wände gelehnt, teils in Gruppen zusammen und leise mit einander redend.
»Warum stehen die Menschen draußen?«, fragte Lyra. »Es ist doch kalt.«
»Das sind keine Menschen«, sagte Lady Salmakia, »und auch keine Geister. Sie sind noch etwas anderes.«
Die Reisenden erreichten die erste Ansammlung von Hütten, die von einer schwachen, im kalten Wind
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