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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Gerechten trennen, oder so. Beten hilft nicht mehr, dazu ist es jetzt zu spät. Das hätte man tun sollen, solange man noch am Leben war.«
    Ohne Zweifel glaubte der Alte zu wissen, in welche der beiden Gruppen er gehörte und dass diese Schar die kleinere sein würde. Die anderen Geister hörten ihm mit unwohlem Gefühl zu, doch war er der einzige Führer, den sie hatten, und deshalb folgten sie ihm ohne Murren.
    Und so wanderten sie schweigend unter einem bleiernen Himmel dahin, der nun seine stumpfe metallische Tönung behielt. Die Lebenden schauten immer wieder nach rechts und links, oben und unten in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, was Licht, Leben und Freude in dieses graue Einerlei bringen könnte. Doch sie wurden nur enttäuscht, bis endlich ein kleiner Funken in der Ferne erschien, der rasch durch die Luft auf sie zukam. Es war der Chevalier. Salmakia flog ihm mit einem Freudenschrei entgegen.
    Sie besprachen sich erst untereinander und flogen dann zu den Kindern zurück.
    »Vor uns liegt eine Stadt«, meldete Tialys. »Dort sieht es zwar aus wie in einem Flüchtlingslager, aber offenbar besteht der Ort schon seit Jahrhunderten. Außerdem scheint es einen See in der Nähe zu geben, der aber in Nebel gehüllt ist. Ich habe die Schreie von Vögeln gehört. Und jede Minute treffen dort aus allen Richtungen Hunderte Menschen ein, Menschen wie diese hier, Geister ... «
    Auch die Toten hörten zu, als der Chevalier berichtete, allerdings ohne jede Neugier. Sie schienen in eine dumpfe Trance verfallen zu sein. Lyra hätte sie gern wachgerüttelt und sie aufgefordert, sich zu wehren und nach einem Ausweg zu suchen.
    »Wie können wir diesen Leuten bloß helfen, Will?«, sagte sie. Auch ihm fiel keine Antwort darauf ein. Während sie weitergingen, sahen sie, wie sich am Horizont etwas von links nach rechts bewegte. Vor ihnen stieg eine Rauchwolke auf und verdunkelte zusätzlich den unheilschwangeren Himmel. Die Bewegung stammte von Menschen oder Geistern: In Reihen, paarweise oder einzeln, schritten Hunderte und Tausende Frauen, Männer und Kinder, alle mit leeren Händen, über die weite Ebene auf den Punkt zu, wo der Rauch aufstieg.
    Das Gelände senkte sich nun und ähnelte mehr und mehr einer Müllhalde. Die Luft war stickig, verräuchert und roch unter anderem nach säurehaltigen Chemikalien, verfaulendem Pflanzenabfall und Jauche. Je weiter sie hinabstiegen, desto schlimmer wurde der Gestank. Wohin man auch schaute, überall war der Boden verunreinigt, und außer wucherndem Unkraut und grauem Gras wuchs hier nichts mehr.
    Vor ihnen hing dichter Nebel über dem Wasser. Der Dunst ragte wie eine Klippe auf und verschmolz mit dem Grau des Himmels, und von irgendwo aus seinem Inneren drangen die Vogelschreie, von denen Tialys gesprochen hatte.
    Zwischen den Müllbergen und der Nebelwand lag die erste Stadt der Toten.

Lyra und ihr Tod
     
     

    Hier und da brannten Feuer in den Ruinen. Ein choatischer Anblick bot sich ihnen: keine Straßen, keine Plätze und keine freien Flächen, abgesehen von Trümmerstätten. Wenige Kirchen und öffentliche Gebäude ragten noch aus dem Schutt, freilich mit löchrigen Dächern und geborstenen Wänden. An einer Stelle war eine Säulenhalle eingestürzt. Zwischen den steinernen Trümmern hatten die Bewohner aus alten Dachlatten, zerbeulten Kanistern und Blechkisten, Plastikplanen und Resten von Sperrholz und Karton ein Gewirr von Hütten und Behelfsunterkünften gezimmert.
    Die Geister, die mit Will und Lyra gekommen waren, strebten in die Stadt. Und von allen Seiten kamen weitere in so großer Zahl, dass man an Sandkörner in einem Stundenglas erinnert wurde. Die Geister trotteten schnurstracks in das düstere Labyrinth der Stadt, als wüssten sie genau, wohin sie müssten. Lyra und Will wollten ihnen schon folgen, doch sie wurden aufgehalten.
    Ein Mann trat aus einem Torbogen und rief. »Halt!«
    Im trüben Licht hinter ihm war es nicht leicht, seine Züge zu erkennen, doch erkannten die beiden gleich, dass sie keinen Geist vor sich hatten, sondern einen lebendigen Menschen. Ein hagerer Mann ohne bestimmtes Alter in einem grauen, zerknitterten Anzug, der einen Bleistift und ein Klemmbrett in der Hand hielt. Das Gebäude, aus dem er gekommen war, sah aus wie eine Zollstation an einer wenig besuchten Grenze.
    »Was ist das für ein Ort?«, fragte Will. »Und warum dürfen wir nicht rein?«
    »Ihr seid nicht tot«, sagte der Mann müde. »Ihr müsst im Auffanglager warten. Geht

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