Das Bernstein-Teleskop
freundlich zu geben. Nach einer Weile sagte der Mann:
»Tja, obzwar es schon seltsam ist, aber wir leben wohl in seltsamen Zeiten ... Kommt herein, seid willkommen... «
Die Gestalten draußen nickten, ein paar verneigten sich sogar, und alle machten respektvoll Platz, als Will und Lyra in die warme, erleuchtete Hütte traten. Der Mann schloss die Tür hinter ihnen und hängte einen Haken in eine Öse, um sie geschlossen zu halten.
Die ärmliche, aber saubere Hütte bestand nur aus einem Raum, der von einer auf dem Tisch stehenden Naphthalampe erhellt wurde. Die Sperrholzwände waren teils mit Bildern von Filmstars aus Zeitschriften, teils mit Mustern von rußgeschwärzten Fingern dekoriert. An einer Wand stand ein gusseiserner Ofen, davor ein Wäscheständer, auf dem ein paar geflickte Hemden trockneten. Außerdem gab es eine Frisierkommode mit einem Schrein, geschmückt mit Plastikblumen, Muscheln, bunten Duftflaschen und anderem billigem Krimskrams, und in der Mitte das Bild eines tanzenden Knochenmanns mit Zylinder und Sonnenbrille.
Die Hütte war überfüllt: Neben dem Mann und einer Frau sowie zwei kleinen Kindern lag noch ein Baby in einer Krippe, außerdem hielt sich hier ein älterer Mann auf und in einer Ecke lag eine sehr alte Frau in einem Wust von Betttüchern. Ihr Gesicht war so faltig wie die Tücher, doch beobachtete sie alles mit leuchtenden Augen. Als Lyra genauer hinschaute, bekam sie einen Schreck: Die Tücher bewegten sich, und hervor kam ein sehr dünner Arm, der in einem schwarzen Ärmel steckte, und dann ein weiteres Gesicht, das eines Mannes, so uralt, dass es fast wie ein Skelett erschien.
Tatsächlich ähnelte er eher dem Knochenmann auf dem Bild als einem lebenden Menschen. Da merkte Will, und mit ihm auch alle anderen Reisenden, dass der Mann zu den höflichen Schattenwesen gehörte, die draußen vor der Hütte standen. Alle waren mit einem Mal so verwirrt, wie der Mann es bei ihrem Anblick gewesen war.
Sämtliche Anwesenden - mit Ausnahme des Babys, das in der Krippe schlief - waren sprachlos. Als Erste fand Lyra die Sprache wieder.
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie. »Guten Abend, wir freuen uns, bei Ihnen zu sein. Und wie ich schon sagte, wir bedauern, ohne einen Tod gekommen zu sein, wenn so etwas normalerweise dazugehört. Wir wollen Sie auch nicht weiter stören. Was wir suchen, ist das Land der Toten, deswegen sind wir hier. Leider wissen wir nicht, wo es liegt, oder ob dies bereits ein Teil davon ist und wie wir dorthin gelangen können. Wenn Sie uns mehr darüber sagen könnten, wären wir Ihnen sehr dankbar.«
Die Leute in der Hütte starrten immer noch wortlos, doch Lyras Worte hatten die Atmosphäre ein wenig entspannt. Die Frau lud sie ein, am Tisch Platz zu nehmen, und zog dazu eine Bank hervor. Will und Lyra setzten die schlafenden Libellen auf einem Brett in einer dunklen Ecke ab. Dort, so erklärte Tia lys, würden sie bis zum Tagesanbruch ausruhen. Die Gallivespier kamen zu den anderen an den Tisch.
Die Frau hatte gerade ein Eintopfgericht gekocht, schälte jetzt noch ein paar Kartoffeln und schnitt sie hinein, um das Ganze ein bisschen zu strecken. Sie bat ihren Mann, den Reisenden eine Erfrischung anzubieten, solange der Eintopf noch auf dem Feuer stand. Er holte eine Flasche Schnaps, der für Lyra wie der Genever der Gypter roch. Die beiden Spione nahmen dankend ein Glas, in das sie ihre Trinkgefäße tunkten.
Lyra hatte erwartet, dass die Familie in erster Linie die Gallivespier bestaunen würde, doch dann musste sie feststellen, dass sie und Will nicht weniger Neugier erregten. Das Mädchen zögerte nicht lange, nach dem Grund zu fragen.
»Ihr seid die ersten Menschen, die wir ohne einen Tod gesehen haben«, sagte der Mann, dessen Name, wie sie nun erfuhren, Peter war. »Seit wir hierhergekommen sind, meine ich. Wir sind wie ihr, uns hat es durch Zufall oder Versehen hierher verschlagen, bevor wir tot waren. Wir müssen an diesem Ort warten, bis unser Tod uns sagt, dass es Zeit ist.«
»Euer Tod sagt euch das?«, fragte Lyra.
»Ja. Das haben wir entdeckt, als wir hierher kamen, oh, viele von uns vor langer Zeit. Wir entdeckten, dass wir alle unseren Tod mitbrachten. Erst hier haben wir das herausgefunden. Wir hatten ihn schon immer bei uns, nur wussten wir nichts davon. Wisst ihr, jeder hat seinen Tod. Er begleitet einen überallhin, unser ganzes Leben lang ist er uns ganz nahe. Unsere Tode stehen jetzt draußen und vertreiben
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