Das Bernstein-Teleskop
sich irgendwie die Zeit, aber sie kommen nach und nach wieder herein. Großmutters Tod ist dagegen die ganze Zeit bei ihr, ganz nahe sogar.«
»Macht Ihnen das nicht Angst, die ganze Zeit in so enger Gesellschaft mit dem Tod zu sein?«, fragte Lyra.
»Warum sollte es das? Wenn er hier ist, kann man ihn im Auge behalten. Mich würde viel mehr beunruhigen, nicht zu wissen, wo er ist.«
»Und jeder hat seinen eigenen Tod?«, fragte Will verwundert.
»Aber ja. In dem Augenblick, in dem du geboren wirst, kommt dein Tod mit dir in die Welt, und dein Tod ist es auch, der dich wieder hinausträgt.«
»Aha«, sagte Lyra, »das ist gut zu wissen, denn wir sind auf der Suche nach dem Land der Toten und haben keine Ahnung, wie wir dorthin kommen. Wie geht das zu, wenn man stirbt?«
»Dein Tod klopft dir auf die Schulter oder nimmt dich an der Hand und sagt: Komm mit mir, es ist so weit. Das kann sein, wenn du mit Fieber krank im Bett liegst, oder wenn du an einem Stück trockenem Brot erstickst, oder wenn du von einem hohen Gebäude fällst. Mitten in deinen Schmerzen und Qualen tritt dein Tod ganz sanft heran und sagt: Ruhig, mein Kind, komm mit mir, und dann fährst du mit den anderen in einem Boot über den See in den Nebel hinein. Was danach passiert, das weiß keiner; denn noch nie ist jemand von dort zurückgekehrt.«
Die Frau sagte zu einem Kind, es solle die Tode hereinrufen. Sogleich eilte es zur Tür und sprach zu den Gestalten. Will und Lyra schauten verwundert zu, und auch die Gallivespier rückten enger zusammen, als die Tode - je einer für jedes Familienmitglied - durch die Tür hereinkamen: blasse, unscheinbare Gestalten in zerschlissener Kleidung, grau, still und gesichtslos.
»Sind das eure Tode?«, fragte Tialys.
»Ja, das sind sie«, bestätigte Peter.
»Wisst ihr, wann sie euch sagen, dass die Zeit gekommen ist?« »Nein. Aber man weiß, dass der Tod nahe ist, und das gibt einem Trost.«
Tialys sagte nichts, doch sah man ihm an, dass er darin keinen Trost erkennen konnte. Die Tode standen höflich an der Wand, und es wirkte eigenartig, wie wenig Platz sie einnahmen und dass sie kaum Aufmerksamkeit erregten. Lyra und Will stellten fest, dass auch sie diese Wesen sehr bald völlig vergaßen. Will dachte einmal: Die Männer, die ich getötet habe - ihre Tode waren die ganze Zeit über nahe bei ihnen sie wussten es nicht, und ich wusste es auch nicht ...
Die Frau, Martha mit Namen, brachte das Eintopfgericht auf den Tisch und servierte es in angeschlagenen Emailtellern. Etwas davon gab sie in eine Schüssel und die Tode reichten sie untereinander weiter. Sie aßen nichts, der Essensduft genügte ihnen schon. Bald darauf sprachen die Familie und die Gäste dem Gericht tüchtig zu, und Peter fragte die Reisenden, woher sie denn kämen und wie es in ihrer Welt aussehe.
»Ich werde euch alles erzählen«, versprach Lyra.
Mit diesen Worten nahm sie alles Weitere in die Hand, und sogleich spürte sie eine Wonne wie Bläschen in einem Champagnerglas in der Brust aufsteigen. Sie wusste, dass Will sie beobachtete, und ihre ganze Freude bestand darin, dass er sie in der Rolle sah, die sie wie keine Zweite beherrschte. Und er musste spüren, dass sie es für ihn und alle anderen tat.
Lyra begann ihre Erzählung mit ihren Eltern. Das waren ein Herzog und eine Herzogin, sehr bedeutende und wohlhabende Leute, die aber von einem politischen Gegner um allen Besitz gebracht und ins Gefängnis geworfen wurden. Doch mit einem Seil - der Vater trug das Baby Lyra in den Armen - gelang ihnen die Flucht. Sie gewannen das Familienvermögen zurück, fielen aber kurz darauf in die Hände von Geächteten und wurden getötet. Lyra hätte ebenfalls ihr Leben verloren, wäre gebraten und aufgefressen worden, wenn Will sie nicht im letzten Augenblick gerettet und zu den Wölfen in den Wald geführt hätte, wo er selbst aufgewachsen war. Er war als Baby auf dem Schiff seines Vaters über Bord gefallen und ans Ufer einer einsamen Insel gespült worden. Dort hatte ihn eine Wölfin gesäugt und großgezogen.
Die Leute in der Hütte glaubten diesen blühenden Unsinn und sogar die Tode drängten näher an den Tisch heran, um besser hören zu können. Sie hockten auf der Bank oder lagen auf dem Fußboden und blickten mit sanften, friedlichen Augen drein, während Lyra die Geschichte von ihrem gemeinsamen Leben mit Will im dunklen Tann ausspann.
Will und Lyra, so erzählte sie weiter, blieben eine Zeit lang bei den Wölfen, ehe sie
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