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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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langsam am Seeufer entlang. Das Kollegiumsgebäude hob sich deutlich von den anderen alten Gebäuden Genfs ab. Mrs. Coulter erkannte das spitze Turmdach, das dunkle Viereck des Kreuzgangs und den dicken Turm, in dem der Vorsitzende des Geistlichen Disziplinargerichts residierte. Schon dreimal hatte sie das Kollegium besucht und wusste, dass es im Gewirr seiner Giebel und Kamine viele Verstecke gab, selbst für ein so großes Fahrzeug wie ihren Gleiter.
    Langsam schwebte sie über die regennass glänzenden Dachziegel und dirigierte die Maschine in einen Winkel zwischen einem steilen Ziegeldach und der senkrechten Wand des dicken Turms. Das Versteck war nur vom nahen Glockenturm der Kapelle der Heiligen Buße einsehbar und erschien für Mrs. Coulters Zwecke bestens geeignet.
    Behutsam senkte sie den Intentionsgleiter nach unten und überließ es dessen sechs Beinen, den Weg zu finden und die Kabine durch entsprechenden Ausgleich waagrecht zu halten. Sie hatte sich in den Gleiter regelrecht verliebt. Das Fahrzeug führte ihre Befehle so schnell aus, wie sie sie denken konnte, und flog vollkommen geräuschlos. Es hätte zum Berühren nah über dem Kopf eines Fußgängers schweben können, ohne dass der Betreffende etwas davon bemerkt hätte. Mrs. Coulter hatte sich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden mit den Schalthebeln vertraut gemacht. Sie wusste allerdings noch nicht, wie das Gefährt angetrieben wurde. Und so bereitete ihr allein die Frage Sorge, wann der Treibstoff oder die Batterien erschöpft sein würden.
    Der Intentionsgleiter setzte auf. Sobald feststand, dass das Dach sie trug, nahm Mrs. Coulter den Helm ab und kletterte hinaus. Ihr Dæmon stemmte bereits einen der schweren, alten Dachziegel hoch. Sie half ihm, und bald hatten sie ein halbes Dutzend abgedeckt. Sie brach die Latten ab, auf denen die Ziegel aufgelegen hatten, bis das Loch groß genug war, um hindurchzukriechen.
    »Steig hinein und sieh dich um«, flüsterte sie. Der Dæmon verschwand in dem dunklen Loch.
    Mrs. Coulter verfolgte am leisen Kratzen seiner Nägel seinen Weg über den Dachboden. Dann erschien das schwarze Gesicht mit der goldenen Mähne wieder in der Öffnung. Mrs. Coulter nickte und folgte ihm hinein. Drinnen wartete sie, bis ihre Augen sich an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Nach und nach sah sie eine längliche Bodenkammer mit den dunklen Umrissen von Schränken, Tischen, Bücherregalen und anderen ausrangierten Möbeln.
    Als Erstes rückte sie einen hohen Schrank vor das Loch im Dach. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zu der Tür am Ende der Kammer und drückte die Klinke herunter. Natürlich war die Tür abgesperrt, aber Mrs. Coulter hatte eine Haarnadel dabei.
    Das Schloss leistete keinen Widerstand. Drei Minuten später standen die Frau und ihr Dæmon am Anfang eines langen Korridors. Im schwachen Licht einer verstaubten Dachluke sahen sie, dass am anderen Ende eine schmale Treppe nach unten führte.
    Weitere fünf Minuten später hatten sie zwei Stockwerke tiefer in der Speisekammer neben der Küche ein Fenster geöffnet und stiegen in eine Gasse hinaus. Das Torhaus des Kollegiums lag gleich um die Ecke, und wie Mrs. Coulter dem goldenen Affen gesagt hatte, war es wichtig, sich ganz normal von vorn zu nähern. Auf welchem Weg sie wieder verschwanden, stand dagegen auf einem anderen Blatt.
     
     
    »Hände weg«, herrschte Mrs. Coulter den Wachposten an. »Rühr mich nicht an, sonst lasse ich dich auspeitschen. Melde dem Vorsitzenden, dass Mrs. Coulter eingetroffen ist und ihn unverzüglich zu sprechen wünscht.«
    Der Mann wich vor ihr zurück, und sein Dæmon, ein Pin scher, der den friedlich aussehenden goldenen Affen mit gefletschten Zähnen angeknurrt hatte, winselte ängstlich und zog den Stummelschwanz ein.
    Die Wache betätigte die Kurbel eines Telefons, und wenige Augenblicke später eilte ein junger Priester mit frischem Gesicht in das Torhaus. Hastig wischte er sich die Hände an seinem Talar für den Fall ab, dass die Frau ihm die Hand geben wollte. Sie wollte nicht.
    »Wer sind Sie?«, fragte Mrs. Coulter.
    »Bruder Louis«, erwiderte der Mann und streichelte seinen Dæmon in Kaninchengestalt beruhigend. »Chefsekretär des Geistlichen Disziplinargerichts. Wenn Sie so freundlich wären -«
    »Ich bin nicht hier, um meine Zeit mit einem Schreiberling zu vertrödeln«, unterbrach Mrs. Coulter ihn. »Bringen Sie mich sofort zu Pater MacPhail.«
    Bruder Louis verbeugte sich hilflos und ging ihr voraus.

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