Das Bernstein-Teleskop
über einen unsichtbaren Rand strömten.
Und sie rissen sie immer weiter von ihrem Körper fort. Mary warf eine geistige Rettungsleine zu dem schlafenden Körper hinunter und versuchte, sich ihr Körpergefühl, alle Empfindungen, die das Lebendig sein ausmachen, zu vergegenwärtigen. Das Gefühl, wie ihre Freundin Atal ihr mit dem weichen Ende ihres Rüssels den Nacken massierte. Den Geschmack von gebratenen Eiern mit Speck. Die Muskelanspannung, wenn sie eine Felswand hinaufkletterte. Den Tanz ihrer Finger auf einer Computertastatur. Den Duft von geröstetem Kaffee. Die kuschelige Wärme ihres Bettes in einer Winternacht. Und langsam kam ihre Bewegung zum Stillstand. Die Rettungsleine hielt. Wie sie da in der Luft hing, spürte Mary die Stärke der Strömung, die gegen sie drückte. Dann geschah etwas Seltsames. Nach und nach und mit jeder weiteren Erinnerung an Sinneseindrücke (an eine in Kalifornien probierte eisgekühlte Margarita, an die Terrasse eines Restaurants in Lissabon, wo sie unter Zitronenbäumen gesessen hatte, an einen Wintermorgen, an dem sie den Raureif von der Windschutzscheibe ihres Autos kratzte merkte sie, wie der Staubwind nachließ und sein Sog schwächer wurde.
Aber nur bei ihr. Ringsum trieb die große Straf-Strömung mit gleicher Geschwindigkeit weiter. Eine kleine Insel der Ruhe hatte sich irgendwie um sie gebildet, wo die Teilchen der Strömung widerstanden.
Die Partikel besaßen Bewusstsein! Sie fühlten ihre Angst, verhielten sich entsprechend und trugen sie zurück zu ihrem schlafenden Körper. Als Mary ihn wieder aus der Nähe daliegen sah, in seiner schweren, warmen Leiblichkeit, da entrang sich ihr ein stiller Seufzer.
Und sie kehrte in ihren Körper zurück und erwachte.
Zuerst tat Mary einen tiefen, bebenden Atemzug, dann drückte sie Hände und Beine gegen den rauen Bretterboden der Plattform. War sie vor einer Minute noch schier wahnsinnig vor Angst gewesen, so empfand sie nun ein stilles, tiefes Entzücken über das Glück, ihren Körper und den Kontakt mit der Erde und aller Materie wieder gefunden zu haben.
Schließlich richtete sie sich auf und versuchte, sich darüber klar zu werden, was gerade geschehen war. Sie griff nach dem Bernstein Teleskop und hielt es sich mit zitternden Händen vors Auge. Kein Zweifel: Die langsame, sich über den ganzen Himmel hinziehende Strömung war zu einer reißenden Flut angeschwollen. Der Sog ließ sich weder hören noch ertasten (und ohne Teleskop hätte sie ihn auch nicht sehen können, aber auch nachdem Mary das Teleskop hatte sinken lassen, spürte sie sehr deutlich die geräuschlose, rasch dahinziehende Flut und darüber hinaus noch etwas, was sie in ihrem panischen Schrecken, von ihrem Körper getrennt zu sein, nicht bemerkt hatte: eine tiefe, hilflose Trauer, von der die Luft durchtränkt war.
Die Schattenteilchen wussten, was geschah, und trauerten darüber.
Auch sie selbst bestand zu einem Teil aus Schattenmaterie und unterlag deshalb der Flut, die durch das All strömte. Ebenso wie die Mulefa, die Menschen in ihrer Welt und alle mit Bewusstein begabten Geschöpfe, wo immer sie auch lebten.
Und wenn die Wissenschaftlerin nicht herausfand, was eigentlich geschah, würden alle von dem Strom mitgerissen und in Vergessenheit versinken. Alle ohne Ausnahme.
Mit einem Mal ergriff sie eine Sehnsucht nach der Erde. Mary steckte das Teleskop ein und begann den langen Abstieg zurück auf den Boden.
Pater Gomez stieg durch das Fenster, als die Abendsonne ihr mildes Licht über das Land warf. Er sah die Wälder mächtiger Rad-Bäume und die Basaltstraßen, die die Prärie durchzogen, so wie Mary sie vor einiger Zeit von derselben Stelle aus erblickt hatte. Kein Dunst trübte die Luft, weil kurz vorher ein Regenschauer niedergegangen war. Daher konnte der Geistliche weiter sehen als damals die Wissenschaftlerin. So erblickte er in der Ferne den Schimmer einer Wasserfläche, auf der sich weiße Gebilde bewegten, möglicherweise Segelboote.
Gomez schnallte den Rucksack höher und schlug die Richtung der weißen Gebilde ein. Er empfand es als angenehm, in der Abendstille die ebene Straße entlangzuziehen. Aus dem hohen Gras kam der Gesang von zikadenähnlichen Insekten und die Strahlen der untergehenden Sonne wärmten das Gesicht des einsamen Wanderers. Die Luft war frisch und frei vom Naphtha- und Kerosinrauch, der die Luft einer jener Welten so fürchterlich verpestet hatte, durch die er auf dem Weg hierher gezogen war: die
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