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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Welt, in der sein Opfer, die Verführerin, zu Hause war.
    Bei Sonnenuntergang erreichte der Pater eine Landzunge neben einer seichten Bucht. Wenn dieses Meer den Gezeiten unterlag, dann herrschte gerade Flut, denn vom Ufer war nur ein schmaler Saum weißen Sandes über dem Wasser trocken geblieben.
    In der stillen Bucht schwammen ein Dutzend, ja was eigentlich ... Pater Gomez musste erst nachdenken. Ein Dutzend gewaltiger schneeweißer Vögel, jeder von der Größe eines Ruderboots, mit langen geraden Flügeln, die hinter ihnen im Wasser lagen. Die Flügel waren sehr lang, mindestens zwei Meter. Aber handelte es sich wirklich um Vögel? Gewiss, sie hatten ein Federkleid, und Kopf und Schnabel ähnelten denen von Schwänen, aber die Flügel standen einander in Längsrichtung gegenüber...
    Jetzt hatten auch sie ihn bemerkt. Köpfe drehten sich ruckartig, und auf einmal spannten sich alle Flügel, genau wie die Segel einer Jacht. Alle legten sich in den Wind und steuerten auf das Ufer zu.
    Pater Gomez war geblendet von der Schönheit dieser Flügel-Segel, mit denen sie so elegant im Wasser lagen, und von der Geschwindigkeit, mit der sich die Vögel fortbewegten. Dann sah er, dass sie auch ruderten: Die Beine paddelten unter Wasser, waren aber nicht in Kiellinie angeordnet wie die Flügel, sondern nebeneinander. Flügel und Beine zusammen verliehen ihnen eine schnelle und anmutige Bewegung im Wasser.
    Kaum hatte der Erste das Ufer erreicht, stieg er schwerfällig den Sandstrand hinauf und bewegte sich geradewegs auf den Geistlichen zu. Das Tier gab zischende, bösartige Laute von sich, stieß den Kopf rhythmisch vor und stach mit dem Schnabel in die Luft. Der Schnabel war mit scharfen, hakenähnlichen Zähnen versehen.
    Pater Gomez stand gut hundert Meter vom Ufer entfernt auf einer grasbewachsenen Erhebung und hatte Zeit genug, den Rucksack abzulegen, das Gewehr herauszunehmen, es zu laden, zu zielen und abzudrücken.
    Der Kopf des Vogels explodierte in einer Wolke aus Rot und Weiß, dann torkelte das tödlich getroffene Tier noch ein paar Schritte und fiel nach vorn auf die Brust. Der Todeskampf dauerte nur eine Minute: Der große Vogel zuckte mit den Beinen, schlug mit den Flügeln und drehte sich mehrmals in einem blutigen Kreis, bis er röchelnd und Blut speiend verendete.
    Die anderen Vögel hatten innegehalten, als der erste fiel, und beobachteten ihn und ebenso den Mann. Ihre Augen verrieten, dass sie rasch begriffen. Grimmig schauten sie von ihm zu dem toten Artgenossen, von dem Vogel zum Gewehr und vom Gewehr zum Gesicht des Mannes. Gomez legte die Waffe nochmals an und beobachtete, wie sie darauf reagierten. Die Vögel wendeten unbeholfen und scharten sich zusammen. Sie begriffen.
    Diese intelligenten, kräftigen Geschöpfe mit dem breiten Rücken ähnelten lebenden Booten. Wenn sie verstanden, was der Tod bedeutete, dachte Pater Gomez, und wenn sie den Zusammenhang zwischen dem Tod und ihm sahen, dann könnte dies die Grundlage für ein fruchtbares wechselseitiges Verstehen sein. Wenn die Vögel erst einmal gelernt hatten, ihn zu fürchten, würden sie ihm aufs Wort gehorchen.

Mitternacht
     
     

    »Marisa«, sagte Lord Asriel, »wach auf, wir landen.«
    Der Intentionsgleiter näherte sich von Süden der Basaltfestung, über der ein stürmischer Morgen dämmerte. Wie betäubt vor Kummer schlug Mrs. Coulter die Augen auf. Sie hatte nicht geschlafen. Über dem Landeplatz schwebte der Engel Xaphania. Dann, als der Gleiter auf die Wälle zu hielt, stieg der Engel flügelschlagend zum Turm auf.
    Sobald der Gleiter gelandet war, sprang Lord Asriel hinaus und begab sich zu König Ogunwe im westlichen Wachturm. Mrs. Coulter schien er vergessen zu haben. Auch die Mechaniker, die sofort herbeieilten und sich um das Fahrzeug kümmerten, beachteten die Frau nicht. Niemand befragte sie wegen des Gleiters, den sie gestohlen und dann verloren hatte. Man hätte meinen können, Mrs. Coulter sei auf einmal unsichtbar geworden. Traurig stieg sie zu dem Zimmer im Dia mantturm hinauf. Dort erbot sich Lord Asriels Bursche, ihr Kaffee und etwas zu essen zu besorgen.
    »Bringen Sie, was Sie wollen«, sagte sie. »Danke.« Und als der Mann schon gehen wollte, fügte sie hinzu: »Ach, übrigens, Lord Asriels Alethiometrist, ein gewisser ... «
    »Basilides?«
    »Genau. Ob er auf einen Augenblick heraufkommen kann?« »Er sitzt über seinen Büchern, gnädige Frau. Ich werde ihn bitten, zukommen, sobald er Zeit hat.«
    Mrs. Coulter

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