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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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wusch sich und zog ihre letzte saubere Bluse an. Der Wind, der an den Fenstern rüttelte, und der graue Morgen ließen sie frösteln, obwohl in dem eisernen Ofen ein Feuer brannte. Sie legte einige Kohlen nach, um sich aufzuwärmen, doch zu tief saß ihr die Kälte in den Knochen.
    Zehn Minuten später klopfte es. Der Alethiometrist, ein bleicher Mann mit dunklen Ringen unter den Augen und einem Dæmon in Gestalt einer Nachtigall auf der Schulter, trat ein und verbeugte sich knapp. Einen Augenblick später kehrte der Bursche mit einem Tablett mit Brot, Käse und Kaffee zurück.
    »Danke, dass Sie gekommen sind, Mr. Basilides«, begrüßte ihn Mrs. Coulter. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
    »Einen Schluck Kaffee, danke.«
    »Sie sind sicher über alles genau im Bilde«, fuhr Mrs. Coulter fort, sobald sie ihm eingeschenkt hatte. »Deshalb sagen Sie mir bitte, ob meine Tochter noch lebt.«
    Basilides zögerte. Der goldene Affe umklammerte Mrs. Coulters Arm. »Sie lebt«, erwiderte der Alethiometrist vorsichtig, »aber ... « 
    »Ja? Bitte, so reden Sie doch weiter.«
    »Ihre Tochter befindet sich in der Welt der Toten. Ich verstand zuerst nicht, was das Alethiometer meinte, so abwegig erschien mir die Antwort. Doch mittlerweile besteht kein Zweifel mehr. Das Mädchen und der Junge haben sich in die Welt der Toten begeben und ein Fenster geöffnet, durch das die Geister diese Welt verlassen können. Sobald die Toten nach draußen gelangen, lösen sie sich auf, wie ihre Dæmonen es bei ihrem Tod getan haben, und ein solches Ende erscheint ihnen als höchstes Glück. Laut dem Alethiometer hat das Mädchen aufgrund einer Prophezeiung so gehandelt, der zufolge der Tod einst aufgehoben würde. Dies zu vollbringen hielt Lyra für ihre Aufgabe. Jetzt führt also ein Weg aus der Welt der Toten.«
    Mrs. Coulter schnürte sich die Kehle zu. Sie wandte sich ab und trat ans Fenster, um ihre Gefühle zu verbergen.
    »Und wird Lyra lebend aus dieser Welt herauskommen?«, fragte sie schließlich. »Nein, ich weiß, Sie können nicht in die Zukunft sehen. Ist Lyra denn - wie geht es ihr - hat sie ... «
    »Sie leidet tiefste Seelennot und hat Angst. Doch befindet sie sich in der Gesellschaft des Jungen und der beiden gallivespischen Spione.« 
    »Und die Bombe?«
    »Die Bombe hat ihr nichts anhaben können.«
    Auf einmal überkam Mrs. Coulter tiefe Erschöpfung. Sie wollte sich nur noch hinlegen und monatelang, jahrelang schlafen. Draußen schlug und ratterte das Fahnenseil im Wind, und über den Wällen kreisten mit heiseren Rufen Krähen.
    Mrs. Coulter drehte sich zu dem Alethiometristen um. »Ich danke Ihnen«, sagte sie. »Sie haben mir sehr geholfen. Geben Sie mir bitte Bescheid, sobald Sie mehr erfahren haben, zum Beispiel wo Lyra ist und was sie tut.«
    Der Mann verbeugte sich und zog sich zurück. Mrs. Coulter legte sich auf das Feldbett. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht einschlafen.
     
     
    »Für was haltet Ihr das, König?«, fragte Lord Asriel.
    Er spähte durch das Fernrohr nach Westen, auf einen kleinen Fleck am Himmel. Der Fleck sah aus wie ein eine Handbreit über dem Horizont in der Luft hängender, von einer Wolke bedeckter Berg. Der Berg war weit weg, so weit, dass er nicht größer als ein Daumennagel am Ende eines ausgestreckten Armes erschien. Er zeigte sich jedoch erst seit kurzem am Himmel. Vollkommen bewegungslos hing er dort.
    Das Fernrohr holte ihn zwar näher heran, doch ließ sich damit nicht viel mehr erkennen. Eine Wolke sieht immer wie eine Wolke aus, egal wie sehr man sie vergrößert.
    »Für den Wolkenberg«, erwiderte Ogunwe. »Oder den - wie nennen sie ihn gleich? Den Streitwagen?«
    »An dessen Zügeln der Regent steht. Er weiß sich gut zu verbergen, dieser Metatron. Von ihm ist in den apokryphen Schriften die Rede. Er war einst ein Mensch, genannt Enoch, der Sohn des Jared, sechs Generationen nach Adam. Jetzt regiert Metatron das Reich des Allmächtigen, und wenn der am Schwefelsee aufgegriffene Engel Recht hatte - der Engel, der als Spion in den Wolkenberg eindrang -, will er noch viel mehr. Der Regent will nach seinem Sieg in der bevorstehenden Schlacht direkt in das Leben der Menschen eingreifen. Stellt Euch das vor, Ogunwe - eine ständige Inquisition, schlimmer als alles, was das Geistliche Disziplinargericht je ausgebrütet hat, mit Spitzeln und Verrätern in allen Welten und unter der persönlichen Leitung jenes Geistes, der diesen Berg in der Luft

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