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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Dæmon auf einmal hilflos fauchend und brüllend in den Schlingen eines unsichtbaren Netzes zappelte und wie der Mann ihn zu retten versuchte; wie er das Gewehr fallen ließ, den Namen des Dæmons rief und dann selbst ohnmächtig vor Schmerzen und Übelkeit zu Boden sank.
    »Lass uns jetzt raus, Will«, sagte John Party. »Wir können gegen die Gespenster kämpfen.«
    Will vergrößerte das Fenster und rannte an der Spitze der Geisterarmee hindurch. Und damit begann eine Schlacht, wie er sie sich in seinen wildesten Fantasien nicht hätte träumen lassen.
    Die Geister stiegen aus der Erde: bleiche Schemen, fahler noch als das Mittagslicht. Sie hatten nichts mehr zu fürchten, und unverdrossen stürzten sie sich auf die unsichtbaren Gespenster, packten sie, rangen mit ihnen und zerrten und rissen an Dingen, die Will und Lyra nicht sehen konnten.
    Die Schützen und anderen Verbündeten Lord Asriels aus Fleisch und Blut beobachteten sie verwirrt und begriffen nicht, was hier vor sich ging. Will stürzte sich mit gezücktem Messer in das Getümmel. Er wusste noch, wie die Gespenster früher vor ihm geflohen waren.
    Lyra rannte hinter ihm her. Sie wünschte, sie hätte auch eine Waffe dabeigehabt. Stattdessen versuchte sie sich zu orientieren und die weitere Umgebung im Blick zu behalten. Von Zeit zu Zeit bildete sie sich ein, ein Gespenst zu sehen, ein öliges Schillern in der Luft. Sie war es dann auch, die die neue Gefahr zuerst bemerkte.
    Lyra stand mit Salmakia auf der Schulter auf einer Anhöhe, einem mit Weißdorn bewachsenen kleinen Hügel, von dem sie das von den Angreifern verwüstete Umland überblicken konnten.
    Die Sonne stand direkt über ihr. Am westlichen Horizont türmten sich von dunklen Kratern durchsetzte leuchtende Wolken, deren obere Enden von den dort wehenden Winden auseinander gezogen wurden. Auch in dieser Richtung, auf der Ebene, waren gegnerische Regimenter mit glitzernden Maschinen und bunten Fahnen kampfbereit aufmarschiert. Dahinter verlief die Kette schroffer Berge, die zur Festung führte. Hell leuchtete ihr Grau im fahlen Licht vor dem Sturm, und auf den schwarzen Basaltwällen in der Ferne konnte man sogar kleine Gestalten erkennen, die hin und her liefen, beschädigte Zinnen ausbesserten, Waffen einsatzbereit machten oder nur Ausschau hielten.
    In diesem Augenblick verspürte Lyra zum ersten Mal einen Anflug jener schmerzhaften Übelkeit und Angst, die unmissverständlich mit der Berührung eines Gespenstes einherging.
    Lyra wusste sofort, worum es sich handelte, obwohl sie so etwas noch nie gespürt hatte. Und sie begriff zweierlei: Erstens war sie jetzt offenbar so erwachsen, dass Gespenster sie angriffen, und zweitens musste Pan irgendwo in der Nähe sein.
    »Will«, rief sie, »Will.«
    Er hörte sie und fuhr mit gezücktem Messer herum. Seine Augen blitzten.
    Doch noch bevor Will etwas sagen konnte, stöhnte er erstickt auf und fasste sich an die Brust, und Lyra wusste, dass ihm das Gleiche passiert war.
    »Pan!«, schrie das Mädchen. »Pan!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sah sich nach allen Richtungen um.
    Will beugte sich vornüber, um nicht erbrechen zu müssen. Nach einer Weile klang die Übelkeit wieder ab, als ob ihre Dæmonen sich befreit hätten. Doch hatten die Kinder immer noch keine Ahnung, wo sie sie finden konnten. Ringsherum knallten Schüsse und schrien Stimmen vor Schmerzen oder Angst auf. Die beiden hörten das entfernte Krächzen von Klippenalpen, die hoch über ihnen kreisten, hin und wieder das Zischen eines Pfeils und dann noch etwas: den aufkommenden Wind. Lyra spürte ihn zuerst auf ihren Wangen. Dann bemerkte sie, wie sich das Gras unter ihm bog, und hörte, wie er raschelnd durch den Weißdorn fuhr. Am Himmel über ihr waren die weißen Wolken durch eine gewaltige Gewitterfront ersetzt worden, ein kilometerhohes Wolkengebirge, das sich schwefelgelb, meergrün, rauchgrau und ölig schwarz über den Horizont gewälzt hatte.
    In ihrem Rücken schien noch die Sonne, und jede kleine Pflanze, jeder Busch und jeder Baum zwischen ihr und dem Gewitter leuchtete in ihrem Schein auf und streckte der nahenden Finsternis tapfer Blätter, Zweige, Früchte und Blüten entgegen.
    Durch dieses Licht gingen die beiden Kinder, die keine Kinder mehr waren. Sie sahen die Gespenster jetzt deutlicher. Der Wind blies Will in die Augen und wehte Lyra die Haare ins Gesicht, und er hätte eigentlich auch die Gespenster wegblasen müssen, doch die sanken durch ihn

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