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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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sagen brauchte er nichts.
    »Als du gestern so bitter von Lyra und mir gesprochen hast ... Ich glaubte, du würdest sie hassen. Dass du mich hasst, konnte ich verstehen. Ich habe dich nie gehasst, aber ich konnte es verstehen ... Aber ich verstand nicht, warum du Lyra hasst.«
    Asriel schüttelte langsam den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Du hast einmal etwas Seltsames gesagt«, sagte Mrs. Coulter jetzt, »damals auf dem Berg in Svalbard, kurz bevor du unsere Welt verlassen hast. Du sagtest: Komm mit, und wir werden den Staub für immer vernichten. Erinnerst du dich daran? Aber du meintest etwas ganz anderes, du meintest das genaue Gegenteil, nicht wahr? Das begreife ich jetzt. Warum hast du mir damals nicht gesagt, was du in Wirklichkeit vorhattest? Warum hast du mir nicht verraten, dass du den Staub in Wirklichkeit erhalten wolltest? Du hättest mir ruhig die Wahrheit sagen können.«
    »Ich wollte nur, dass du mit mir kommst«, antwortete Lord Asriel leise. Seine Stimme klang heiser. »Und ich glaubte, eine Lüge würde dich eher dazu bewegen.«
    »Ja«, flüsterte sie, »das habe ich mir gedacht.«
    Mrs. Coulter konnte nicht mehr sitzen und war zu schwach, um aufzustehen. Einen Augenblick lang schwindelte ihr. Ihr Kopf drehte sich, die Geräusche um sie erstarben und im Zimmer wurde es dunkel. Doch sofort kehrte ihr Bewusstsein wieder zurück, unbarmherziger noch als zuvor, und alles war noch wie vorher.
    »Asriel ... «, murmelte sie.
    Der goldene Affe streckte vorsichtig die Pfote aus und berührte die der Schneeleopardin. Der Mann sah wortlos zu, und Stelmaria bewegte sich nicht. Ihr Blick war unverwandt auf Mrs. Coulter gerichtet.
    »Ach, Asriel, was wird mit uns geschehen?«, seufzte Mrs. Coulter noch einmal. »Ist jetzt alles zu Ende?«
    Der Lord schwieg.
    Mit schlafwandlerischen Bewegungen stand sie auf, ging zu dem Rucksack, der in einer Ecke des Zimmers lag, griff hinein und holte ihre Pistole heraus. Was sie dann getan hätte, blieb für immer ein Geheimnis, denn in diesem Augenblick näherten sich draußen auf der Treppe eilige Schritte.
    Der Mann, die Frau und die beiden Dæmonen sahen dem Burschen entgegen, der ins Zimmer stürzte.
    »Entschuldigt, Mylord«, keuchte er. »Die beiden Dæmonen - man hat sie gesehen - nicht weit vom östlichen Tor - in Gestalt zweier Katzen der Wachposten versuchte sie anzusprechen und hereinzuholen, aber sie wollten nicht näher kommen. Das war erst vor einer Minute ... «
    Lord Asriel hatte sich aufgerichtet. Er war wie verwandelt. Alle Erschöpfung schien schlagartig von ihm abgefallen zu sein. Er sprang auf und griff nach seinem Mantel.
    Ohne auf Mrs. Coulter zu achten, warf er sich den Mantel um die Schultern. »Verständige sofort Madame Oxentiel«, befahl er dem Burschen. »Und gib folgenden Befehl aus: Die beiden Dæmonen sind keinesfalls zu bedrohen, einzuschüchtern oder gewaltsam zu etwas zu zwingen. Wer sie sieht, muss sofort ...«
    Mehr hörte Mrs. Coulter nicht, denn Lord Asriel war bereits auf halbem Weg die Treppe hinunter. Seine Schritte verklangen, und nur noch das leise Zischen der Naphthalampe und das Heulen des Sturmes draußen waren zu hören.
    Ihr Blick traf den ihres Dæmons. Das Mienenspiel des goldenen Affen drückte wie immer in den fünfunddreißig Jahren ihres gemeinsamen Lebens alles aus, was er dachte.
    »Also gut«, sagte die Frau. »Wenn es keine andere Möglichkeit gibt ... dann ...«
    Der Affe begriff sofort, was sie meinte. Er sprang zu ihrer Brust hinauf, und sie umarmten einander. Mrs. Coulter schlüpfte in ihren mit Fell gefütterten Mantel, dann verließen sie gemeinsam das Zimmer und stiegen leise die dunkle Treppe hinunter.

Die Schlacht auf der Ebene
     
     

    Lyra und Will hatte es ungeheure Überwindung gekostet, in der sie übernachtet hatten, doch wussten sie, wenn sie je ihre Dæmonen finden wollten, mussten sie noch einmal in die Finsternis hinabsteigen. Seit Stunden krochen sie jetzt erschöpft durch den düsteren Tunnel. Zum zwanzigsten Mal beugte Lyra sich über das Alethiometer. Zu schwach, um richtig zu schluchzen, stieß sie dabei unbewusst leise wimmernde Laute aus. Auch Will spürte schmerzlich die wunde, überempfindliche Stelle, die sein Dæmon hinterlassen hatte. Jeder Atemzug riss wie mit nadelspitzen Krallen daran. Erschöpft drehte Lyra an den Rädchen, und ihre Gedanken waren bleiern schwer. Die Bedeutungsfolgen, die sich von den sechsunddreißig Symbolen des Alethiometers ableiten ließen und

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