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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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durch abgestürzte Engel verursacht wurden und denen sogar der sintflutartige Regen nichts anhaben konnte. Auch der Kurs war nicht schwer zu bestimmen. Die Blitze, die um den Berg zuckten, dienten Mrs. Coulter als Leuchtfeuer. Sie musste nur den verschiedenen fliegenden Geschöpfen ausweichen, die noch in der Luft kämpften, und durfte dem unter ihr allmählich ansteigenden Boden nicht zu nahe kommen.
    Das Licht hatte sie nicht eingeschaltet. Sie wollte nicht entdeckt und abgeschossen werden, bevor sie ihr Ziel erreicht und einen Landeplatz gefunden hatte. Je näher sie dem Berg kam, desto stärker wurde der Aufwind, und heftige, unberechenbare Böen setzten ein. Ein Gyropter hätte keine Chance gehabt. Der Sturm hätte ihn wie eine Fliege nach unten gedrückt und am Boden zerschellen lassen. Mit dem Intentionsgleiter hingegen konnte Mrs. Coulter auf dem Wind reiten wie ein Surfer auf den Wellen des Friedlichen Ozeans.
    Vorsichtig begann sie zu steigen. Mrs. Coulter flog auf Sicht und nach Gefühl, ohne Zuhilfenahme der Instrumente. Ihr Dæmon sprang unablässig in der Glaskabine auf und ab, sah vorn, oben, links und rechts hinaus und rief ihr zu, was er sah. Blitze explodierten in einem fort und tauchten Wolkenfelder in gleißendes Licht. Unerschrocken flog die Frau in ihrem kleinen Gefährt mittendurch, immer höher, geradewegs auf den von Wolken verhüllten Palast zu.
    Je näher sie dem Berg kam, desto mehr stieg ihre Verwirrung, und ihr schwindelte.
    Sie fühlte sich an eine verdammenswerte Ketzerei erinnert, deren Urheber jetzt verdientermaßen im Kerker des Disziplinargerichts schmachtete. Er hatte behauptet, es gebe mehr räumliche Dimensionen als die bekannten drei, nämlich ineinander verschachtelt bis zu sieben oder acht weitere Dimensionen, die allerdings nicht mehr unmittelbar der menschlichen Wahrnehmung zugänglich seien. Sogar ein Modell hatte der Mann gebaut, welches das Zusammenspiel dieser Dimensionen zeigen sollte. Mrs. Coulter hatte es noch gesehen, bevor es exorziert und verbrannt wurde. Raum war in sich gefaltet. Kanten und Ecken umfassten Raum und wurden von Raum umfasst. Der Wolkenberg erinnerte Mrs. Coulter daran: Er war kein Berg aus Stein, sondern mehr ein Kraftfeld, das den Raum faltete, streckte und schichtete und aus Luft, Licht und Dampf Galerien, Terrassen, Kolonnaden und Wachtürme schuf.
    Eine seltsame Begeisterung erfasste Mrs. Coulter, und im selben Augenblick entdeckte sie die wolkenverhangene Terrasse an der südlichen Bergflanke. Dort konnte sie mit ihrem Gefährt aufsetzen. Der Gleiter wurde vom Sturm hin und her geschüttelt, doch unverdrossen hielt Mrs. Coulter auf die Terrasse zu und landete nach den Anweisungen ihres Dæmons wohlbehalten.
    Bisher hatte sie sich am Licht der Blitze und gelegentlicher Wolkenspalten, durch die die Sonne fiel, orientiert, am Leuchten der brennenden Engel und anbarischen Suchschein werfern. Hier dagegen schien ein anderes Licht. Der Berg selbst strahlte es aus, einen langsam pulsierenden, perlmuttfarbenen Schein.
    Frau und Dæmon stiegen aus dem Fahrzeug und blickten sich um. Wohin sollten sie sich wenden?
    Mrs. Coulter hatte das Gefühl, dass über und unter ihnen geschäftiges Treiben herrschte und Wesen mit Botschaften, Befehlen und Nachrichten durch den Berg eilten. Sehen konnte sie nichts außer verwirrenden, ineinander gefalteten Perspektiven endloser Kolonnaden, Treppen, Terrassen und Fassaden.
    Die Frau hatte noch nicht entschieden, in welche Richtung sie gehen wollte, als sie Stimmen hörte. Mrs. Coulter trat hinter eine Säule. Die Stimmen sangen einen Psalm und kamen näher. Eine Prozession von Engeln, die eine Sänfte trugen, bog um die Ecke.
    Die Engel näherten sich der Säule, hinter der Mrs. Coulter sich versteckte, entdeckten den Intentionsgleiter und blieben stehen. Der Gesang brach ab, und die Träger sahen sich verwirrt und ängstlich um.
    Mrs. Coulter stand so nahe an der Sänfte, dass sie das Wesen darin sehen konnte. Ein Engel, dachte sie, und er ist unvorstellbar alt. Viel konnte sie nicht erkennen, weil die Sänfte auf allen Seiten von Kristall umgeben war, das glitzerte und den Schein des Berges reflektierte, doch was sie erblickte, wirkte entsetzlich hinfällig: ein in tiefen Falten versunkenes Gesicht, zitternde Hände, ein unablässig sich bewegender Mund und wässrige Augen.
    Zitternd wies der Alte auf das Gefährt, murmelte etwas, zupfte unablässig an seinem Bart und warf ruckartig den Kopf zurück und ließ einen

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