Das Bernstein-Teleskop
hindurch zu Boden. Hand in Hand kletterten der Junge und das Mädchen über Tote, Verwundete und Lebende. Lyra rief ihren Dæmon, und Will hatte alle Sinne auf den seinen konzentriert.
Die ersten Blitze zuckten über den Himmel, und der erste gewaltige Donnerschlag traf die Ohren der Kinder wie eine Axt. Lyra hob schützend die Hände über den Kopf, und Will wäre fast vom Donner umgeworfen worden.
Aneinander geklammert blickten die beiden zum Himmel auf, und was sie dort sahen, hatte es in keiner der Millionen Welten je gegeben. Hexen von Ruta Skadis und Reina Mitis Clan und einem halben Dutzend anderer Sippen flogen mit lodernden, in Erdpech getauchten Kiefernfackeln von der letzten Ecke blauen Himmels im Osten über die Festung und geradewegs auf das Gewitter zu.
Das Knacken und Fauchen der aus dem Pech schlagenden Flammen war bis zum Boden zu hören. Einige letzte Gespenster schwebten noch durch die Luft, und einige Hexen flogen in sie hinein, ohne sie zu sehen, schrien auf und stürzten brennend ab. Die meisten der fahlen Schemen hatten je doch inzwischen die Erde erreicht, und das Heer der Hexen hielt wie ein Feuerstrom auf das Zentrum des Gewitters zu. Eine Streitmacht von mit Speeren und Schwertern bewaffneten Engeln quoll aus dem Wolkenberg und stellte sich den Hexen entgegen. Die Engel hatten den Wind im Rücken und flogen schneller vorwärts als Pfeile, doch die Hexen waren ihnen ebenbürtig. Sie stiegen hoch hinauf und stürzten sich dann von oben auf die Reihen der Engel und schlugen mit ihren lodernden Fackeln auf sie ein. Enge l für Engel ging in Flammen auf und trudelte mit brennenden Flügeln schreiend nach unten.
Dann fielen die ersten dicken Regentropfen. Wenn der unsichtbare Feldherr in den Gewitterwolken damit die Fackeln der Hexen hatte löschen wollen, sah er sich enttäuscht. Das Erdpech und die Kiefernzweige brannten trotzig weiter und zischten und spuckten nur umso heftiger, je mehr Regentropfen auf sie fielen. Hart schlugen die Tropfen auf dem Boden auf wie von einer böswilligen Hand geschleudert und zersprangen hoch aufspritzend. Schon bald waren Lyra und Will bis auf die Haut durchnässt und zitterten vor Kälte. Der Regen bombardierte ihre Köpfe und Arme wie mit kleinen Steinchen. Immer weiter stolperten sie durch das Getümmel, wischten sich das Wasser aus den Augen und riefen nach Pan. Über ihren Köpfen donnerte es jetzt fast ununterbrochen, ein Rumpeln, Knattern und Krachen, als ob die Materie selbst aus den Fugen geriete. Geduckt rannten Will und Lyra weiter. »Pan!«, brüllten sie beide. »Pantalaimon!« Und Will, der wusste, was er verloren hatte, aber keinen Namen dafür kannte, schrie wortlos auf.
Mit ihnen kamen die beiden Gallivespier, die sie dirigierten, auf Gefahren hinwiesen und vor Gespenstern warnten, weil die Kinder sie immer noch nicht richtig sehen konnten. Lyra musste Salmakia auf die Hand nehmen, weil die Spionin zu schwach war, um sich an ihrer Schulter festzuhalten. Tialys suchte unablässig den Himmel nach Artgenossen ab und schrie, sobald er ein metallisches Glitzern durch die Luft schießen sah. Doch hatte seine Stimme ihre Kraft verloren, und die Gallivespier über ihnen suchten sowieso nach etwas anderem, nach den Stammesfarben der beiden Libellen, einem metallischen Blau und rotgelben Streifen. Doch waren diese Farben längst verblichen, und die zugehörigen Körper lagen in der Welt der Toten.
Am Himmel kam eine Bewegung auf, die sich von allem bisherigen unterschied. Die Kinder blickten hoch und hielten die Hände wegen des prasselnden Regens schützend vor die Augen. Über sie glitt dunkel ein Flugzeug hinweg, wie sie noch nie eins gesehen hatten, ein seltsam plumpes, lautloses Gefährt mit sechs Beinen. Das Gefährt schwebte von der Festung heran, strich tief, sehr tief über ihre Köpfe, nicht höher als der First eines Hauses, und verschwand im Herzen des Sturmes. Doch blieb ihnen keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn wieder überkam Lyra heftige Übelkeit, und sie wusste, dass Pan erneut in Gefahr war. Will erging es genauso.
Blindlings stolperten sie durch Pfützen und Dreck, vorbei an verwundeten Soldaten und kämpfenden Geistern - verstört, hilflos und elend.
Der Wolkenberg
Am Steuer des Intentionsgleiters saß Mrs. Coulter. Sie und ihr Dæmon befanden sich allein im Cockpit.
Der barometrische Höhenmesser nützte im Sturm wenig, doch konnte Mrs. Coulter ihre Höhe in etwa anhand der Feuer am Boden abschätzen, die
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