Das Bernstein-Teleskop
stolz darauf. Du bist ein Abgrund moralischer Verworfenheit.«
Sein Urteil erschütterte Mrs. Coulter zutiefst. Sie hatte es erwartet und gefürchtet, doch zugleich auch erhofft. Jetzt, da es gesprochen war, empfand sie sogar ein Gefühl des Triumphs.
Sie trat dicht vor ihn.
»Dann wisst Ihr, dass ich dazu fähig bin, Asriel zu betrügen«, sagte sie. »Ich kann Euch an den Ort führen, wohin er den Dæmon meiner Tochter in diesem Augenblick bringt. Ihr könntet Asriel vernichten, und das Kind würde Euch arglos zulaufen.«
Mrs. Coulter spürte, wie Dunst sie umwehte, und ihr schwindelte. Metatrons nächsten Worte drangen ihr durch Mark und Bein, wie Pfeile aus parfümiertem Eis.
»Als Mensch«, sagte er, »hatte ich Frauen in Hülle und Fülle, doch keine war so schön wie du.«
»Als Mensch?«
»Man nannte mich Enoch, Sohn des Jared, Sohn des Mahalalel, Sohn des Kenan, Sohn des Enosch, Sohn des Seth, Sohn des Adam. Fünfundsechzig Jahre lang lebte ich auf der Erde, dann holte der Allmächtige mich in sein Reich.«
»Und Ihr hattet viele Frauen.«
»Ich liebte ihr Fleisch. Deshalb hatte ich Verständnis, wenn die Söhne des Himmels sich in die Töchter der Erde verliebten, und ich verwendete mich für sie vor dem Allmächtigen. Doch Er blieb gegen sie verhärtet und befahl mir, ihr Ende zu prophezeien.«
»Ihr seid also seit Tausenden von Jahren nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen ... «
»Ich bin der Regent des Reiches.«
»Wäre es denn nicht an der Zeit, dass Ihr Euch eine Gemahlin nehmt?«
Noch nie hatte Mrs. Coulter sich so nackt und schutzlos gefühlt. Doch vertraute sie auf ihren Körper und auf die seltsame Wahrheit, die sie über Engel erfahren hatte, besonders Engel, die einst Menschen gewesen waren: dass diese nämlich, selbst körperlos, sich danach sehnten, Körper aus Fleisch und Blut zu berühren. Und Metatron stand jetzt dicht vor ihr, so dicht, dass er das Parfüm ihrer Haare riechen und ihre weiche, glatte Haut sehen musste, dass er sie mit glühenden Händen hätte anfassen können. Ein eigenartiges Geräusch setzte ein, wie das Zischen und Knistern, das man hört, bevor man merkt, dass das Haus brennt.
»Sage mir, was Lord Asriel vorhat und wo er sich befindet«, befahl Metatron.
»Ich kann Euch jetzt gleich zu ihm bringen«, erwiderte Mrs. Coulter.
Die Engel, die die Sänfte trugen, verließen den Berg und flogen nach Süden. Metatron hatte angeordnet, den Allmächtigen aus dem umkämpften Gebiet an einen sicheren Ort zu bringen, damit er noch eine Weile leben könne. Statt ihm allerdings eine gleich mehrere Regimenter starke Leibwache mitzugeben, die nur die Aufmerksamkeit des Gegners erregt hätte, vertraute er darauf, dass die Flucht im Gewitter sowieso nicht bemerkt würde und deshalb eine kleine Eskorte ausreichte.
Der Regent hätte auch Recht behalten, hätte nicht ein ganz bestimmter Klippenalp, der sich an einem toten Krieger gütlich tat, in genau dem Moment zum Himmel aufgeblickt, in dem der Strahl eines Suchscheinwerfers zufällig auf die kristallene Sänfte traf.
Etwas regte sich im Gedächtnis des Klippenalps und er hielt inne, die Hand noch auf der warmen Leber. Sein Bruder stieß ihn beiseite, und da fiel ihm das Geplapper des Fuchses in der Arktis wieder ein.
Sofort breitete er die ledrigen Schwingen aus und hob sich in die Luft. Im nächsten Moment folgten ihm die anderen Klippenalpe.
Xaphania und ihre Engel hatten die ganze Nacht und einen Teil des Morgens die nähere Umgebung abgesucht, dann endlich waren sie an der Bergflanke im Süden der Festung auf einen kleinen Spalt gestoßen, der sich am Tag zuvor dort noch nicht gezeigt hatte. Sie hatten ihn untersucht und vergrößert, und jetzt stieg Lord Asriel eine Folge von Höhlen und Tunneln hinunter, die tief unter die Festung führten.
Entgegen seiner Vermutung herrschte hier keine völlige Dunkelheit. Etwas leuchtete schwach. Milliarden winziger, schwach glühender Teilchen, die wie ein Strom aus Licht stetig durch den Tunnel nach unten strömten.
»Staub«, sagte Lord Asriel zu seinem Dæmon.
Er hatte noch nie welchen mit bloßem Auge gesehen, und auch noch nie so viel auf einmal. Vorsichtig ging Asriel weiter, bis der Tunnel sich plötzlich verbreiterte und er am oberen Ende einer riesigen Höhle stand, einer gewaltigen Grotte, in der ein Dutzend Kathedralen Platz gefunden hätte. Einen Boden hatte die Höhle nicht. Die Wände fielen Schwindel erregend steil einige hundert Meter bis
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