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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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wird.«
    »Ach, Metatron, wie lange ist es her, dass Ihr ein Mensch wart! Wisst Ihr wirklich nicht, was ich bereue? Nicht was meine Tochter versäumt, sondern was ich versäumt habe. Ich bereue bitter, dass ich Euch nicht schon als junge Frau kennen gelernt habe. Mit welcher Leidenschaft hätte ich mich Euch hingegeben ...«
    Wieder kam Mrs. Coulter ihm näher, wie einem unbezähmbaren Drang ihres Körpers gehorchend, und der Schatten roch gierig an ihr und sog den Geruch ihrer Haut ein.
    Mühsam kletterten sie über die geborstenen Felsen. Das Licht der Staubteilchen tauchte alles in einen goldenen Nebel. Immer wieder tastete Mrs. Coulter wie selbstvergessen nach der Hand Metatrons und hielt dann inne, als sei ihr eingefallen, dass der Schatten neben ihr ja kein Mensch war.
    »Bleibt hinter mir, Metatron«, flüsterte sie. »Wartet hier. Asriel ist misstrauisch - zuerst muss ich seinen Argwohn zerstreuen. Sobald er sich in Sicherheit wiegt, rufe ich Euch. Doch nähert Euch als Schatten, so wie Ihr jetzt seid, damit er Euch nicht sieht - sonst lässt er den Dæmon des Kindes davonfliegen.«
    Jahrtausendelang war der Verstand Metatrons gewachsen und immer schärfer geworden, und sein Wissen umfasste eine Million Welten. Doch in diesem Augenblick war er blind und wurde nur noch von zwei Gedanken beherrscht: Lyra zu vernichten und ihre Mutter zu besitzen. Er nickte deshalb nur und blieb stehen, während die Frau und der Affe, so leise sie konnten, weitergingen.
    Lord Asriel wartete außer Sicht hinter einem großen Granitblock. Die Schneeleopardin hörte die Frau und den Affen kommen, und als Mrs. Coulter um die Ecke bog, stand Lord Asriel auf. Der niedersinkende Staub füllte alles aus und bedeckte jede Oberfläche. Jeden Kubikzentimeter Luft tauchte er in weiches, klares Licht. In diesem Schein sah Asriel, dass Tränen über Mrs. Coulters Gesicht strömten und sie die Lippen aufeinander presste, um nicht laut zu schluchzen.
    Er nahm sie in die Arme, und der goldene Affe umarmte die Schneeleopardin und vergrub sein Gesicht in ihrem Fell.
    »Ist Lyra in Sicherheit?«, flüsterte Mrs. Coulter. »Hat sie ihren Dæmon gefunden?«
    »Der Geist von Wills Vater beschützt beide.«
    »Staub ist etwas Wunderschönes ... ich hatte ja keine Ahnung.«
    »Was hast du Metatron erzählt?«
    »Lügen über Lügen, Asriel ... Lass uns nicht länger warten, ich halte es nicht mehr aus ... Unser Leben ist zu Ende, nicht wahr? Wir werden nicht weiterleben wie die Geister?«
    »Wenn wir in den Abgrund fallen, nein. Wir sind hier, weil Lyra Zeit braucht, ihren Dæmon zu suchen und zu leben und erwachsen zu werden. Wenn wir Metatron vernichten, Marisa, dann bekommt sie diese Zeit. Und wenn wir mit ihm zugrunde gehen, ist das unwichtig.«
    »Lyra passiert bestimmt nichts?«
    »Bestimmt nicht«, erwiderte er leise.
    Asriel küsste sie. Sie fühlte sich in seinen Armen so leicht und geborgen wie dreizehn Jahre zuvor, als sie Lyra empfangen hatte.
    Die Frau schluchzte leise. Dann, als sie wieder sprechen konnte, flüsterte sie: »Ich sagte Metatron, ich würde dich und Lyra verraten, und er glaubte mir, weil ich so schlecht und verdorben bin. Sein Blick ging so tief, dass ich überzeugt war, er würde die Wahrheit entdecken. Aber ich habe zu gut gelogen. Ich log mit Leib und Seele ... Er sollte nichts Gutes an mir finden, und das hat er auch nicht. Es gibt ja auch nichts. Aber ich liebe Lyra. Woher kommt diese Liebe? Ich weiß es nicht. Sie kam zu mir wie ein Dieb in der Nacht, und jetzt liebe ich Lyra so sehr, dass ich es kaum ertrage. Metatron gegenüber konnte ich nur hoffen, dass meine Verbrechen so ungeheuerlich waren, dass die Liebe in ihrem Schatten wie ein Senfkorn verborgen blieb. Ich wünschte, ich hätte noch größere Verbrechen begangen, die meine Liebe noch besser verbergen würden ... Doch das Senfkorn schlug Wurzeln und wuchs und der grüne Schössling spaltete mein Herz und öffnete es weit. Ich hatte solche Angst, Metatron würde es bemerken ... «
    Mühsam um Fassung ringend brach sie ab. Lord Asriel strich ihr über die schimmernden, mit goldenem Staub bedeckten Haare und wartete. »Er kann jeden Moment die Geduld verlieren«, fuhr Mrs. Coulter flüsternd fort. »Ich riet ihm, sich erst einmal zurückzuhalten. Doch letzten Endes ist er nur ein Engel, auch wenn er als Mensch lebte. Wir können mit ihm kämpfen, ihn zum Rand des Abgrunds stoßen und uns mit ihm hinunterstürzen ...«
    Lord Asriel küsste sie wieder und nickte.

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