Das Bernstein-Teleskop
»Dann kann Lyra nichts mehr passieren, und der Himmel ist gegen sie machtlos. Rufe Metatron jetzt, Marisa, meine Liebe.«
Mrs. Coulter holte tief Luft und ließ sie mit einem langen, zitternden Seufzer wieder ausströmen. Dann strich sie ihren Rock glatt und schob sich die Haare hinter die Ohren.
»Metatron«, rief sie leise. »Es ist so weit.«
Die in einen Schatten gehüllte Gestalt des Regenten erschien in der goldenen Luft. Mit einem Blick erfasste er alles: die beiden wachsam geduckten Dæmonen, die in einen Heiligenschein aus Staub gehüllte Mrs. Coulter und Lord Asriel. Letzterer stürzte sich sofort auf ihn, packte ihn um die Hüften und versuchte, ihn niederzuringen. Die Arme des Engels allerdings blieben frei. Mit Fäusten, Handballen, Ellbogen, Knöcheln und Unterarmen schlug Metatron auf Lord Asriel ein. Ein Trommelfeuer gewaltiger Schläge ging hernieder, die dem Lord den Atem raubten und krachend auf seinen Rippen und seinem Schädel landeten, so dass ihm schwindelte.
Doch hatte Asriel die Arme in eiserner Klammer um die Schwingen des Engels geschlossen. Mrs. Coulter sprang zwischen den zusammengedrückten Flügeln hinauf und packte Metatron an den Haaren. Wild begehrte der Engel auf, und der Frau war, als hänge sie an der Mähne eines durchgehenden Pferdes. Wütend schüttelte Metatron den Kopf, und Mrs. Coulter flog hin und her. Gewaltsam versuchten die mächtigen Schwingen, die Umklammerung der Arme zu sprengen. Auch die Dæmonen hatten sich auf den Engel gestürzt. Stelmaria verbiss sich in sein Bein und der goldene Affe riss an den Federn eines Flügels und zerfetzte sie. Der Engel tobte. Mit einem gewaltigen Ruck warf er sich zur Seite. Ein Flügel kam frei und schleuderte Mrs. Coulter gegen einen Felsen.
Sie verlor für einen Augenblick die Besinnung und der Griff ihrer Hände lockerte sich. Sofort bäumte sich der Engel auf und schlug mit dem freien Flügel heftig auf und ab, um auch den goldenen Affen abzuschütteln. Nur Lord Asriel hielt den Engel weiter umklammert, sogar noch fester jetzt, da er einen Flügel weniger zu halten brauchte. Ungeachtet der heftigen Schläge, die auf seinen Kopf und Hals niederprasselten, wollte er Metatron die Rippen zusammendrücken, bis sie brachen und der Engel keine Luft mehr bekam.
Doch die Schläge forderten ihren Tribut. Und während Lord Asriel damit beschäftigt war, auf dem steinigen Boden das Gleichgewicht zu halten, traf ihn ein gewaltiger Hieb am Hinterkopf. Metatron hatte, als er sich zur Seite geworfen hatte, einen faustgroßen Stein vom Boden aufgelesen; diesen schmetterte er jetzt mit brutaler Gewalt auf den Kopf seines Gegners. Lord Asriel spürte, wie sich die Knochen seines Schädels gegeneinander verschoben, und er wusste, dass ein zweiter solcher Schlag ihn töten würde. Schwindlig vor Schmerzen - Schmerzen, die umso schlimmer waren, als er den Kopf gegen den Bauch des Engels gedrückt hatte – hielt er sich dennoch verbissen fest, die Finger der rechten Hand in die Finger der linken verkrallt.
Verzweifelt suchte Asriel auf dem Boden nach einem festen Halt. Metatron holte erneut mit dem blutigen Stein aus, doch diesmal schoss ein goldener Blitz wie eine Flamme an einem Baum an ihm hoch und grub die Zähne in seine Rechte. Die Hand öffnete sich, und der Stein fiel hinunter und rollte polternd zum Rand des Abgrunds. Metatron fuchtelte mit dem Arm durch die Luft, um den Dæmon abzuschütteln, doch der goldene Affe klammerte sich mit Zähnen, Nägeln und Schwanz an die Hand, und dann bekam Mrs. Coulter die mächtige weiße Schwinge zu fassen und hielt sie fest.
Der Regent konnte die Flügel nicht mehr bewegen, doch noch war er unverletzt und stand nicht am Rand des Abgrunds.
Lord Asriels Kräfte ließen nach. Blutüberströmt und halb bewusstlos hing er an dem Engel, und mit jeder Bewegung schwanden seine Kräfte weiter. Er spürte, wie die zersplitterten Knochen seines Schädels aneinander rieben, er hörte sie knirschen, und er konnte nicht mehr klar denken. Nur noch ein Gedanke beherrschte ihn: Ich muss den Engel festhalten und hinunterziehen.
Mrs. Coulter spürte das Gesicht des Engels unter ihrer Hand und bohrte die Finger in seine Augen.
Metatron schrie. Weit weg, von der anderen Seite der riesigen Höhle, antwortete das Echo. Von Vorsprung zu Vorsprung sprang seine Stimme, schwoll an und wurde schwächer, und die ferne Prozession der Geister auf der anderen Seite blieb neugierig stehen.
Stelmaria, die Schneeleopardin,
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