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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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zum Rand eines gähnenden Schlundes von tiefstem Schwarz ab, in dem der endlose Teilchenstrom verschwand. Wie die Sterne sämtlicher Galaxien des Himmels schimmerten die Milliarden Partikel, jedes einzelne ein kleines Fragment bewussten Denkens. Ein melancholisches Licht, dachte Lord Asriel und machte sich mit seinem Dæmon an den Abstieg zu dem gähnenden Loch. Erst jetzt erkannte er, was sich auf der anderen Seite des Abgrunds, einige hundert Meter von ihnen entfernt, abspielte. Der Lord hatte gleich zu Anfang geglaubt, dort eine Bewegung auszumachen. Je tiefer er kam, desto deutlicher wurde das Bild einer Prozession bleicher, schemenhafter Gestalten, die den gefährlichen Steilhang nach oben stiegen: Männer, Frauen, Kinder und Geschöpfe aller Art, von denen er viele noch nie gesehen hatte. Sie waren so darauf konzentriert, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, dass sie ihm keine Beachtung schenkten. Lord Asriel begriff, dass sie Geister waren, und seine Nackenhaare sträubten sich.
    »Lyra muss hier durchgekommen sein«, sagte er leise zu der Schneeleopardin.
    »Pass auf, wohin du trittst«, erwiderte diese nur.
     
     
    Zur selben Zeit waren Will und Lyra durchnässt, und sie froren und litten unsägliche Schmerzen. Blind stolperten sie über Steine und durch kleine Bäche, die vom Regen anschwollen und rot vor Blut waren. Lyra fürchtete, dass Lady Salmakia im Sterben lag. Die Gallivespierin hatte schon seit einiger Zeit nichts mehr gesagt und lag entkräftet und bewegungslos in ihrer Hand.
    Die Kinder stiegen zum Ufer eines Baches hinunter, dessen Wasser klar sprudelte, schöpften mit den Händen Wasser und tranken es gierig. Will spürte, wie Tialys sich auf seiner Schulter aufrichtete.
    »Will«, sagte der kleine Spion, »ich höre Pferde näher kommen - Lord Asriel hat keine Kavallerie, also müssen es Feinde sein. Geht über den Bach und versteckt euch drüben - dort sind Büsche ... «
    »Wir müssen weiter«, sagte Will zu Lyra, und spritzend rannten sie durch das Wasser, das so kalt war, dass ihnen die Knochen wehtaten. Gerade noch rechtzeitig kletterten sie auf der anderen Seite ans Ufer. Die Reiter, die über den Hügel kamen und zum Bach hinuntertrabten, um zu trinken, sahen nicht aus wie Soldaten. Sie hatten dasselbe Fell wie ihre Pferde und trugen keine Kleider, dafür aber Waffen: Dreizacke, Netze und Krummsäbel.
    Will und Lyra drehten sich nicht nach ihnen um. Geduckt stolperten sie über den unebenen Boden, nur ein Ziel vor Augen: unbemerkt zu entkommen.
    Den Blick hielten sie starr auf den Boden gerichtet, um nicht in ein Loch zu treten und sich den Knöchel zu verstauchen oder zu brechen. Über ihnen donnerte es ununterbrochen, deshalb hörten sie das Kreischen und Fauchen der Klippenalpe auch erst, als es zu spät war. Die Kreaturen hatten sich um etwas Glitzerndes versammelt, das auf die Seite gesackt im Schlamm lag. Es war etwas größer als die Klippenalpe, eine Art großer Käfig mit Wänden aus Kristall. Die gierigen Wesen hämmerten mit Fäusten und Steinen darauf ein und kreischten ohrenbetäubend. Bevor Will und Lyra anhalten und in die andere Richtung laufen konnten, standen sie schon mitten unter ihnen.

Das Ende des Allmächtigen
     
     

    »Seht, wie er sich versteckt, Metatron!«, flüsterte Mrs. Coulter dem Schatten an ihrer Seite zu. »Wie eine Ratte kriecht er durch die Nacht.«
    Sie standen auf einem Sims hoch über der riesigen Höhle. Tief unter ihnen stiegen Lord Asriel und die Schneeleopardin vorsichtig den abschüssigen Hang hinab.
    »Ich könnte ihn jetzt erschlagen«, raunte der Schatten.
    »Gewiss«, flüsterte Mrs. Coulter und rückte näher an ihn heran. »Aber ich will sein Gesicht sehen, teurer Metatron. Er soll wissen, dass ich ihn verraten habe. Wir müssen ihn einholen.«
    Lautlos und ohne Ende sank der Staub in den Abgrund, eine gewaltige, schwach scheinende Säule. Doch Mrs. Coulter achtete nicht darauf, denn der Schatten neben ihr zitterte vor Gier, und sie musste ihn mit allen Mitteln bei Laune halten.
    Schweigend folgten sie Lord Asriel nach unten. Eine große Müdigkeit überkam Mrs. Coulter.
    »Was ist?«, raunte der Schatten sofort misstrauisch.
    »Ich dachte nur gerade, wie froh ich bin, dass Lyra die Liebe nie kennen lernen wird«, sagte Mrs. Coulter boshaft. »Ich bildete mir ein, sie als Baby geliebt zu haben, aber jetzt -«
    »Aus deinen Worten spricht Bedauern«, sagte der Schatten. »Bedauern, weil das Mädchen nicht zur Frau heranwachsen

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