Das Bernstein-Teleskop
viel kleiner als du, aber sie haben viel weniger Sraf. Wann bekommen sie das?
Ich weiß es nicht, sagte Mary. Wahrscheinlich bald. Bei den Menschen kommt das unterschiedlich.
Und sie haben keine Räder, sagte Atal mitfühlend.
Sie jäteten im Gemüsegarten Unkraut. Mary hatte eine Hacke gebastelt, um sich nicht bücken zu müssen. Atal arbeitete mit dem Rüssel, deshalb wurde ihr Gespräch immer wieder unterbrochen.
Aber du wusstest, dass sie kommen würden? fragte Atal.
Ja.
Haben die Stäbe dir das verraten?
Nein. Mary wurde rot. Sie war Naturwissenschaftlerin, und da war es schon schlimm genug zugeben zu müssen, dass sie das Yijing befragte. Aber das hier war noch viel peinlicher. Ich weiß es von einem Nacht-Bild, gestand sie.
Die Mulefa hatten kein einzelnes Wort für Traum, doch träumten sie lebhaft und nahmen ihre Träume sehr ernst.
Du magst Nacht-Bilder nicht, sagte Atal.
Doch, durchaus. Aber ich glaube erst jetzt an sie. Ich sah den Jungen und das Mädchen ganz deutlich, und eine Stimme forderte mich auf, mich auf ihre Ankunft vorzubereiten.
Ihre Freundin blickte auf. Was für eine Stimme? Wie konntest du sie verstehen, wenn du sie nicht gesehen hast?
Atal fiel es schwer, sich Sprache ohne die verdeutlichenden und erklärenden Rüsselbewegungen vorzustellen. Atal war in der Mitte einer Reihe Bohnen stehen geblieben und starrte Mary neugierig an.
Ich habe sie ja gesehen, erwiderte Mary. Es war eine Frau, eine weise Seele, ein Mensch wie ich. Sie war uralt und zugleich alterslos.
Weise Seele nannten die Mulefa ihre Anführer. Was Mary gesagt hatte, schien Atals Neugier noch zu steigern.
Wie konnte sie alt und zugleich nicht alt sein? , fragte Atal.
Das war nur ein Gleich-wie.
Atal ließ beruhigt den Rüssel hängen.
Sie teilte mir mit, wann und wo die Kinder auftauchen würden, fuhr Mary fort. Allerdings nicht, warum. Nur dass ich mich um sie kümmern soll.
Die Kinder sind verletzt und müde, sagte Atal. Werden sie verhindern, dass noch mehr Sraf verschwindet?
Beklommen hob Mary den Blick zum Himmel. Sie wusste auch ohne das Teleskop, dass die Schattenteilchen schneller fortströmten denn je.
Hoffentlich, sagte sie. Aber ich weiß es nicht.
Am frühen Abend, als die Kochfeuer angezündet wurden und die ersten Sterne am Himmel funkelten, traf eine Gruppe fremder Mulefa ein. Mary wusch sich gerade. Sie hörte das Donnern der Räder und dann aufgeregte Stimmen. Rasch trocknete sie sich ab und eilte hinaus. Will und Lyra hatten den ganzen Nachmittag geschlafen. Der Lärm weckte sie. Schlaftrunken setzte sich Lyra auf. Mary sprach mit fünf oder sechs Mulefa, die sie ganz offensichtlich in großer Aufregung umringten. Ob sie wütend waren oder sich freuten, konnte Lyra nicht beurteilen.
Als Mary das Mädchen sah, kam sie zu ihm.
»Lyra«, sagte sie, »es ist etwas passiert. Die Mulefa haben etwas entdeckt, auf das sie sich keinen Reim machen können, und zwar ... ich weiß nicht, was es ist ... Ich begleite sie und schaue nach. Bis dort ist es ungefähr eine Stunde Fahrt. Ich komme zurück, sobald ich kann. Nehmt euch, was ihr braucht. Ich muss sofort los, die Mulefa sind in großer Aufregung -«
»Kein Problem«, sagte Lyra immer noch ganz benommen.
Mary schaute unter den Baum. Will rieb sich gerade die Augen. »Ich brauche wirklich nicht lang«, wiederholte sie. »Atal bleibt bei euch.«
Der Anführer der Mulefa drängte zum Aufbruch. Mary warf ihm rasch Zügel und Steigbügel über den Rücken und schwang sich hinauf. Die Mulefa wendeten und fuhren los.
Sie fuhren diesmal in eine neue Richtung, entlang der Bergkette oberhalb der Küste nach Norden. Mary war noch nie bei Dunkelheit mit den Mulefa unterwegs gewesen. Deren Tempo erschien ihr nachts noch halsbrecherischer als am Tag. Die Straße stieg an, und links sah Mary weit draußen das Meer im Mondlicht glitzern. Das silberne Licht des Mondes tauchte die Ebene, wie es ihr erschien, in einen gelösten, kalten Glanz. Der Glanz strahlte aus Marys Herzen durch die Augen hinaus, und sie fühlte sich vollkommen gelöst, während die Welt kalt und unbewegt blieb, auf ihre Art ebenso gelöst, wenn auch von allem. Immer wieder blickte Mary zum Himmel auf und griff nach dem Teleskop in ihrer Tasche, doch konnte sie es nicht benutzen, solange sie ritt. Und die Mulefa hatten es eilig und würden bestimmt nicht anhalten wollen. Eine Stunde lang jagten sie mit Höchstgeschwindigkeit dahin, dann wandten sie sich landeinwärts. Die Wesen
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