Das Bernstein-Teleskop
verließen die steinerne Straße und rollten langsam über einen Weg aus fest gestampfter Erde inmitten kniehohen Grases, vorbei an einem Wäldchen von Riesenbäumen und dann einen Hang hinauf. Der Mond leuchtete über kahlen Bergen und hin und wieder einem kleinen Tal, durch das ein von Bäumen gesäumter Bach plätscherte.
Zu einem solchen Tal führten die Mulefa Mary. Die Wissenschaftlerin war abgestiegen, als die Mulefa die Straße verlassen hatten, und eilte neben ihnen her. Über eine Kuppe stiegen sie hinunter.
Mary hörte das Gluckern einer Quelle, das Sausen des Windes im Gras und das leise Knirschen der Räder auf der fest getretenen Erde. Die Mulefa besprachen sich leise und blieben dann stehen.
Am Hang neben Mary flimmerte nur wenige Meter von ihr entfernt eins der Fenster, die das Magische Messer geöffnet hatte. Es wirkte wie der Eingang zu einer Höhle, denn das Mondlicht fiel ein wenig hinein, so dass man meinte, ins Innere des Berges zu sehen. Doch das täuschte. Aus dem Fenster strömte eine Prozession von Geistern.
Mary war, als hätte ihr Verstand plötzlich den Halt verloren. Energisch riss sie sich zusammen und griff nach einem Ast, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte und dass die ihr vertraute materielle Welt immer noch da war.
Sie trat näher. Alte Männer und Frauen, Kinder, Mütter mit Babys, Menschen und andere Geschöpfe strömten aus dem dunklen Loch in die unter dem Mond wie gemeißelt da liegende Welt und - verschwanden. Das erschien Mary als das Seltsamste an diesem Bild. Die Geister gingen einige Schritte über das Gras, durch den Wind und das silberne Licht, sahen sich mit vor Freude verklärten Gesichtern um - nie hatte Mary solches Verzücken gesehen - und streckten die Arme aus, als wollten sie das ganze Universum umarmen. Und dann trieben sie einfach davon wie Dunst oder Rauch und verschmolzen mit der Erde, dem Tau und dem Wind.
Einige näherten sich Mary, als wollten sie ihr etwas mitteilen. Sie streckten die Hände aus, und Mary spürte ihre Berührung wie kleine Kälteschauer. Ein Geist - eine alte Frau - winkte sie zu sich heran. »Erzähle den Menschen Geschichten«, hörte Mary sie sagen. »Wir haben es versäumt. So viel Zeit musste vergehen, und nie dachten wir daran! Aber sie brauchen die Wahrheit. Die Wahrheit nährt sie. Erzähle ihnen wahre Geschichten, und alles wird gut, alles. Erzähle ihnen Geschichten.«
Die Frau verstummte und verschwand. Mary erlebte einen jener Augenblicke, in denen einem plötzlich ein Traum einfällt, den man unerklärlicherweise vergessen hat. Schlagartig sind die Gefühle wieder da, die man im Schlaf empfunden hat. So erinnerte Mary sich jetzt an den Traum, den sie Atal zu beschreiben versucht hatte, an das Nacht-Bild. Doch als sie sich genauer zu erinnern versuchte, löste der Traum sich auf wie die schattenhaften Wesen vor ihr und verschwand. Zurück blieben nur das beglückende Gefühl, das sie im Traum empfunden hatte, und die Aufforderung, Geschichten zu erzählen.
Mary blickte in das dunkle Loch. Zu Tausenden fluteten die Geister aus seiner endlosen Tiefe, wie Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehren.
»Erzähle ihnen Geschichten«, flüsterte Mary.
Marzipan
Als Lyra am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie geträumt, Pantalaimon sei zu ihr zurückgekehrt und habe sich ihr in seiner endgültigen Gestalt gezeigt. Sie war selig gewesen, doch jetzt wusste sie nicht mehr, wie er ausgesehen hatte. Die Sonne stand noch gar nicht lange am Himmel, und die Luft fühlte sich noch kühl an. Morgenlicht strömte durch die Tür der kleinen strohgedeckten Hütte, in der Lyra lag. Sie lauschte: Draußen zwitscherten Vögel, eine Grille zirpte und neben sich hörte sie Marys ruhige Atemzüge.
Das Mädchen setzte sich auf und stellte fest, dass es nackt war. Lyra wollte sich schon ärgern, da sah sie einige ordentlich zusammengefaltete, saubere Kleider auf dem Boden neben sich: ein Hemd von Mary und ein Stück weichen Stoffs mit einem hellen Muster, das sie zu einem Rock verknoten konnte. Sie zog beides an. Das Hemd war ihr viel zu groß, aber wenigstens war sie nicht mehr nackt.
Gähnend trat Lyra aus der Hütte. Pantalaimon müsste ganz in der Nähe sein, sie konnte ihn geradezu reden und lachen hören. Demnach ging es ihm gut, und sie hing immer noch irgendwie mit ihm zusammen. Und wenn er ihr verzieh und zu ihr zurückkehrte - stundenlang würden sie nur reden, einander alles erzählen.
Will schlief noch
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