Das Bernstein-Teleskop
unter seinem Baum, der Faulpelz. Lyra wollte ihn schon wecken, dann fiel ihr ein, dass sie im Fluss schwimmen konnte, solange sie allein war. Früher hatte sie mit den anderen Kindern in Oxford immer nackt im Cherwell gebadet, aber mit Will kam das natürlich nicht in Frage. Schon der Gedanke ließ das Mädchen erröten.
Lyra marschierte also allein durch den perlmuttfarbenen Morgen zum Wasser. Im Uferschilf stand vollkommen bewegungslos auf einem Bein ein großer, schlanker Vogel, eine Art Reiher. Lyra ging langsam an ihm vorbei, um ihn nicht zu stören, doch der Vogel schenkte ihr so wenig Beachtung wie einem Stück Treibholz.
»Umso besser«, sagte sie.
Sie legte ihre Kleider ans Ufer und stieg in den Fluss. Meerwasser drückte mit der Flut herein, für Lyra, die noch nie in Salzwasser geschwommen war, ein ganz neues Erlebnis. Sie schwamm rasch, um nicht zu sehr zu frieren, dann stieg sie wieder ans Ufer und schlotterte vor Kälte. Sonst half Pan ihr beim Abtrocknen. War er jetzt vielleicht ein Fisch, der sie unter Wasser auslachte? Oder ein Käfer, der sich in ihren Kleidern verkrochen hatte, um sie zu kitzeln, oder ein Vogel? Oder hatte er sich mit dem anderen Dæmon aus dem Staub gemacht und Lyra schon ganz vergessen?
Die Sonne schien inzwischen warm herunter, und ihre Haut trocknete rasch. Sie zog wieder Marys weites Hemd an. Am Ufer entdeckte Lyra einige flache Steine, und das brachte sie auf eine Idee. Sie wollte ihre eigenen Kleider holen, um sie hier zu waschen. Doch das hatte schon jemand für sie erle digt. Ihre Kleider und auch die von Will hingen fast trocken über den federnden Zweigen eines süß duftenden Busches.
Will bewegte sich, und Lyra hockte sich neben ihn.
»Will!«, rief sie leise. »Aufwachen!«
»Wo sind wir?« Will fuhr hoch und langte nach dem Messer.
»In Sicherheit.« Lyra sah weg. »Die Mulefa haben unsere Kleider gewaschen. Sie oder Dr. Malone. Ich bring dir deine. Sie sind fast trocken.«
Sie reichte ihm die Kleider und setzte sich mit dem Rücken zu ihm, bis er sich angezogen hatte.
»Ich bin im Fluss geschwommen«, sagte sie dann. »Pan habe ich gesucht, aber nicht gefunden.«
»Gute Idee. Ich meine das Schwimmen. Ich komme mir vor, als hätte ich mich jahrelang nicht gewaschen ... Das hole ich jetzt im Fluss nach.«
Während Will im Fluss plantschte, ging Lyra durch das Dorf und sah sich neugierig um, allerdings aus gebührender Entfernung, denn sie wollte nicht unhöflich erscheinen und niemandem versehentlich zu nahe treten. Einige Hütten waren schon sehr alt, andere fast neu, doch hatte man sie alle in gleicher Weise aus Holz, Lehm und Stroh erbaut. Sie wirkten dabei keineswegs primitiv. Tür- und Fensterrahmen bedeckten verschlungene Muster, die nicht in das Holz geschnitzt, sondern gleichsam natürlich mit ihm gewachsen zu sein schienen.
Je länger Lyra sich umschaute, desto deutlicher erkannte sie verschiedene Ebenen, auf denen das Dorf organisiert war. Sie fühlte sich an die Bedeutungsebenen des Alethiometers erinnert. Wie beim Lesen des Instruments versuchte das Mädchen, hinter das Ordnungsprinzip der Ebenen zu kommen und sich dabei von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit und von einer Bedeutung zur anderen zu tasten. Zugleich überlegte Lyra, wie lange sie wohl hier bleiben konnten und wann sie wieder aufbrechen mussten.
Ich gehe hier jedenfalls erst weg, wenn Pan wieder da ist, gelobte sie sich.
Will kehrte vom Fluss zurück, und kurz darauf trat Mary aus der Hütte und fragte, ob sie frühstücken wollten. Bald kam auch Atal, und das ganze Dorf erwachte zum Leben. Die beiden Mulefakinder, die noch keine Räder hatten, spähten immer wieder verstohlen um die Ecken ihrer Hütten. Lyra machte sich einen Spaß daraus, sich plötzlich zu ihnen umzudrehen. Dann sprangen die Kinder in die Luft und lachten vor Schreck.
Sie frühstückten Brot und verschiedene Früchte und tranken einen kochend heißen Aufguss von einer Art Minzeblättern.
»Gut«, sagte Mary schließlich. »Gestern wart ihr so müde, dass ihr nur noch schlafen konntet. Heute seht ihr schon viel besser aus. Ich finde, wir sollten einander jetzt erzählen, was wir alles erlebt haben. Da das eine Weile in Anspruch nehmen wird, schlage ich vor, wir nutzen die Zeit und flicken nebenher einige Netze.«
Sie trugen die vom Teer steifen Netze zum Flussufer und breiteten sie im Gras aus. Dann zeigte Mary den Kindern, wie sie an gerissenen Stellen neue Schnüre in das Netz knoteten. Dabei spähte die Frau
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