Das Bernstein-Teleskop
nach China fahren, und das würde mir auch gar nichts ausmachen, denn ich konnte ja alle anderen Länder besuchen. Doch dann reichte mir jemand eine Praline, und auf einmal fiel mir ein, dass ich, bildlich gesprochen, doch in China gewesen war und es nur vergessen hatte. Der Geschmack der Praline brachte die Erinnerung zurück - die Praline war mit Marzipan gefüllt.« Auf Lyras fragenden Blick fügte Mary erklärend hinzu: »Marzipan ist eine süße Masse aus Mandeln.«
»Ach so«, rief Lyra. »Martschpank!« Sie lehnte sich wieder zurück. »Jedenfalls erkannte ich den Geschmack«, fuhr Mary fort, »und sofort fiel mir wieder ein, wie ich als junges Mädchen zum ersten Mal Marzipan probiert hatte. Ich war zu einer Party im Haus einer Freundin eingeladen. Dort gab es eine Disko -« Wieder bemerkte Mary Lyras fragenden Blick. »Auf einer Disko wird von einem Gerät Musik abgespielt und die Leute tanzen dazu. Meist tanzen die Mädchen zusammen, denn die Jungen trauen sich nicht, sie aufzufordern. Aber die ser Junge, den ich nicht kannte, fragte mich, ob ich tanzen wollte. Also tanzten wir einen Tanz und dann noch einen, und beim zweiten Tanz begannen wir uns zu unterhalten ... Und man spürt doch, wenn man jemanden mag, man spürt es sofort. Ja, und ich mochte den Jungen sehr. Wir redeten und redeten, und dann kam die Geburtstagstorte herein, und er nahm ein Stück Marzipan und schob es mir ganz zärtlich in den Mund. Ich weiß noch, wie ich versuchte zu lächeln, wie ich rot wurde und mir so dumm vorkam, und ich verliebte mich nur deswegen in ihn weil er meine Lippen mit dem Marzipan so zärtlich berührt hatte.« Als Mary das sagte, überkam Lyra plötzlich ein eigentümliches Gefühl, das mit einem Prickeln in den Haarwurzeln begann. Dann merkte sie, dass sie schneller atmete. Sie war nie Achterbahn oder etwas Vergleichbares gefahren, sonst hätte sie das Gefühl gekannt. Lyra verspürte Aufregung und Angst zugleich, ohne die leiseste Ahnung zu haben, woher diese Aufwallungen kamen. Das Gefühl hielt an, wurde stärker und veränderte sich, je mehr Körperteile davon betroffen wurden. Es kam Lyra so vor, als hätte sie den Schlüssel zu einem großen Haus bekommen, einem Haus in ihr, von dessen Existenz sie bis dahin nichts geahnt hatte. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, und daraufhin öffneten sich überall in der Tiefe des dunklen Hauses weitere Türen und Lichter flammten auf. Zitternd saß sie da, die Hände um die Knie geschlungen, und wagte kaum zu atmen.
»Ich glaube, es war auf dieser Party oder auch auf einer anderen«, sagte Mary jetzt, »dass wir uns zum ersten Mal küssten. Wir standen in einem Garten, von drinnen ertönte Musik, unter den Bäumen war es still und kühl, und mein ganzer Körper tat weh, schmerzte vor Verlangen nach diesem Jungen, und ich wusste, ihm ging es genauso. Fast hätten wir uns vor lauter Schüchternheit überhaupt nicht von der Stelle gerührt. Fast. Dann bewegte sich einer von uns, und noch im selben Augenblick, so plötzlich wie ein Quantensprung, lagen wir uns in den Armen und küssten uns, und es war viel besser als China, es war das Paradies.
Wir trafen uns ein halbes Dutzend Mal, mehr nicht. Dann zogen die Eltern des Jungen weg, und ich sah ihn nie wieder. Es war eine wunderbare Zeit, nur leider viel zu kurz ... Doch immerhin, ich hatte es erlebt. Ich war in China gewesen.«
Wie eigenartig: Lyra, die noch eine halbe Stunde früher nichts mit Marys Worten hätte anfangen können, wusste jetzt genau, was die Frau meinte. Still und erwartungsvoll stand das große Haus in ihrem Inneren da. Alle Zimmer waren hell erleuchtet und sämtliche Türen geöffnet.
Mary bemerkte nichts von dem stummen Drama, das in Lyra vorging. »Um halb zehn Uhr abends gab mir jemand in diesem Restaurant in Portugal ein Stück Marzipan zu essen«, fuhr sie fort. »Auf einmal war alles wieder da. Und ich dachte: Soll ich wirklich den Rest meines Lebens auf dieses Gefühl verzichten? Ich will doch lieber nach China fahren. In dieses Land voller exotischer Schätze, Geheimnisse und Freuden. Wer hat denn etwas davon, wenn ich jetzt ins Hotel zurückkehre, bete, beichte und verspreche, mich nie wieder versuchen zu lassen? Wem nützt es, wenn ich unglücklich bin?
Die Antwort war - niemandem. Niemand würde mich ermahnen, verdammen, loben oder bestrafen, weil ich brav oder ungezogen war. Der Himmel war leer. Ich wusste nicht, ob Gott tot war oder ob es Ihn je gegeben hatte. Ich wusste nur, dass
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