Das Bernstein-Teleskop
hatte sich nicht mehr gerührt, seit jenes seltsame Gefühl sie überkommen hatte. Sie bewahrte die Erinnerung daran in sich auf wie ein zerbrechliches, randvoll mit einer neuen Erkenntnis gefülltes Gefäß, das sie nicht zu berühren wagte aus Angst, etwas vom Inhalt zu verschütten. Das Mädchen wusste nicht, was die Erkenntnis beinhaltete und woher sie kam. Bewegungslos saß Lyra da, die Knie mit den Armen umschlungen, und versuchte, ein aufgeregtes Zittern zu unterdrücken. Bald, dachte sie, bald werde ich es wissen. Sehr bald.
Mary war müde, und die Geschichten waren ihr ausgegangen. Morgen würden ihr neue einfallen.
Jetzt hat es einen Sinn
Mary konnte nicht schlafen. Sobald sie die Augen schloss, erfasste sie ein Schwindelgefühl, als stehe sie am Rand eines Abgrundes, und sie schreckte starr vor Angst hoch. Das Ganze wiederholte sich drei-, vier-, fünfmal, und zuletzt war an Schlaf nicht mehr zu denken. Mary stand auf, zog sich leise an und trat aus der Hütte. Auf Zehenspitzen entfernte sie sich von dem Baum, unter dessen zeltartig herunterhängenden Ästen Will und Lyra schliefen.
Der Mond stand hell und hoch am Himmel, und ein frischer Wind war aufgekommen. Die Schatten der Wolken wanderten, so kam es Mary vor, wie eine Herde fantastischer Tiere über das Land. Nur dass Tiere, die wanderten, ein Ziel hatten. Wenn Rentiere über die Tundra zogen oder Gnus über die Savanne, wusste man, sie waren auf Nahrungssuche oder unterwegs zu Orten, wo sie sic h paaren und gebären konnten. Ihre Wanderung hatte einen Sinn. Die Bewegung der Wolken dagegen war das Ergebnis puren Zufalls, die Folge willkürlicher Ereignisse auf der Ebene von Atomen und Molekülen. Ihre über das Gras eilenden Schatten hatten keinerlei Bedeutung. Trotzdem wirkten sie so. Die Wolken zogen wie absichtsvoll und zielgerichtet über den Himmel. Die ganze Nacht schien von einem geheimen Zweck erfüllt zu sein. Mary spürte das unwillkürlich, nur wusste sie nicht, von welchem. Die Wolken schienen es im Unterschied zu ihr zu wissen, und auch dem Wind und dem Gras war das wohl bekannt. Alles um sie erschien lebendig und voller Bewusstsein.
Mary stieg den Hang hinauf und blickte über die Salzwiesen zurück. Die hereinkommende Flut leckte mit silbern leuchtenden Zungen an dem schwarz glitzernden Schlick und den grasigen Polstern. Auf den Wiesen waren die Wolkenschatten besonders deutlich zu sehen: Sie wirkten, als seien sie auf der Flucht vor etwas Schrecklichem oder als eilten sie auf etwas Wunderbares zu. Nur was das sein mochte, blieb Mary verborgen.
Sie drehte sich zu dem Wäldchen um, in dem ihr Kletterbaum stand. Zu Fuß brauchte sie dorthin zwanzig Minuten. Sie erkannte deutlich die hoch aufragende Silhouette des Baumes. Unruhig warf er sein gewaltiges Haupt im Zwiegespräch mit dem Wind hin und her, doch hörte Mary nicht, was Baum und Wind miteinander zu bereden hatten.
Eilig machte sie sich auf den Weg, getrieben von der Erregung der Nacht und begierig, daran teilzuhaben. Die Frau empfand ein Gefühl, wie sie es Will beschrieben hatte, als der sie gefragt hatte, ob Gott ihr fehle: dass nämlich das ganze Universum von Leben erfüllt und alles bedeutungsvoll miteinander verknüpft sei. Als Christin hatte sie sich zugehörig gefühlt. Nach ihrem Austritt aus der Kirche war sie unendlich frei gewesen, aber auch ohne Halt in einem Universum ohne Zweck.
Dann war sie den Schatten begegnet und in eine andere Welt aufgebrochen. Und hier erlebte sie diese von Leben erfüllte Nacht. Alles schien hier Sinn und Zweck zu haben, doch war sie davon abgeschnitten, und eine Verbindung ließ sich nicht herstellen, denn es gab keinen Gott.
Zwischen Glücksgefühlen und Verzweiflung hin und her gerissen, beschloss Mary, auf den Baum zu klettern und sich vom Anblick des Staubes wieder in Trance versetzen zu lassen.
Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte des Weges zum Wäldchen zurückgelegt, als sie neben dem Rauschen der Blätter und dem Sausen des Windes im Gras noch etwas anderes hörte, ein tiefes, dumpfes Stöhnen wie von einer Orgel und darüber ein Krachen, Knacken und Splittern und das Knirschen und Quietschen von aneinander reibendem Holz. Das war doch nicht etwa ihr Baum?
Abrupt blieb sie im Gras stehen, den Blick auf das Wäldchen gerichtet. Der Wind schlug ihr ins Gesicht, die Wolkenschatten jagten am Boden an ihr vorbei, und das hohe Gras peitschte ihre Schenkel. Äste knarrten, Zweige knallten, armdicke grüne Stangen
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