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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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ich frei war und einsam, ob glücklich oder unglücklich, hätte ich nicht sagen können. Doch etwas sehr Seltsames war geschehen. Noch mit dem Marzipan im Mund, noch bevor ich es geschluckt hatte, hatte ich mich in einen anderen Menschen verwandelt. Ein bestimmter Geschmack hatte eine Erinnerung ausgelöst und die Erinnerung ein Erdbeben ... Ich schluckte und sah den Mann an, der mir gegenübersaß. Er hatte gemerkt, dass mit mir etwas geschehen war. Ich konnte ihm allerdings noch nicht sagen, was, hatte ich es selbst doch noch nicht richtig begriffen. Später gingen wir im Dunkeln am Strand spazieren. Ein laues Lüftchen wehte durch meine Haare, der Atlantik zeigte sich von seiner besten Seite - kleine Wellen plätscherten uns um die Füße... Und da nahm ich das Kruzifix vom Hals und warf es ins Meer. Aus und vorbei, endgültig. So hörte ich auf, Nonne zu sein.«
    »War das der Mann, der die Entdeckung mit den Schädeln machte?«, fragte Lyra gespannt.
    »Nein, der Mann mit den Schädeln war Dr. Payne, Oliver Payne. Er kam viel später. Nein, der Mann auf der Konferenz hieß Alfredo Montale. Er war ganz anders.«
    »Haben Sie ihn geküsst?«
    »Geküsst?« Mary lächelte. »Schon, aber nicht gleich.«
    »Fiel es Ihnen schwer, aus dem Orden auszutreten?«, fragte Will. »Einerseits ja, denn alle waren so enttäuscht, die Äbtissin, die Priester, meine Eltern. Alle waren empört und machten mir Vorwürfe ... geradeso als hinge ihr Glaube davon ab, dass ich mit etwas weitermachte, an das ich nicht mehr glaubte. Andererseits fiel es mir leicht, denn es war ein logischer Schritt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, mit meiner ganzen Person hinter einer Entscheidung zu stehen, nicht nur mit einem Teil. Ich war eine Weile ziemlich einsam, aber dann gewöhnte ich mich daran.«
    »Haben Sie den Mann geheiratet?«, fragte Lyra.
    »Nein, ich habe überhaupt nicht geheiratet. Ich lebte mit einem Mann zusammen - nicht mit Alfredo, mit jemand anderem, fast vier Jahre lang. Meine Familie war schockiert. Aber dann fanden wir, dass wir doch nicht zueinander passten. Jetzt lebe ich allein. Der Mann, mit dem ich zusammenlebte, ging gern auf Klettertouren im Gebirge. Er brachte mir das Klettern bei, und ich wandere immer noch gern in den Bergen und ... ich habe meine Arbeit. Oder besser, ich hatte sie. Ich lebe allein, aber ich bin glücklich, wenn ihr versteht, was ich meine.«
    »Wie hieß der Junge?«, fragte Lyra. »Der auf der Party?« »Tim.«
    »Wie sah er aus?«
    »Ach ... nett. An mehr erinnere ich mich nicht.«
    »Als ich Sie in Ihrem Oxford kennen lernte, sagten Sie, Sie seien unter anderem deshalb Wissenschaftlerin geworden, weil Sie dann nicht über Gut und Böse nachdenken müssten. Haben Sie als Nonne darüber nachgedacht?«
    »Hm - nein. Ich wusste ja, was ich zu denken hatte: das, was die Kirche mich lehrte. Und als Wissenschaftlerin beschäftigte ich mich sowieso mit ganz anderen Dingen. Ich brauchte mir also nie den Kopf darüber zu zerbrechen.«
    »Und jetzt?«, fragte Will.
    Mary überlegte. »Ich glaube, jetzt muss ich es.«
    »Als Sie aufhörten, an Gott zu glauben«, fragte Will weiter, »haben Sie da auch aufgehört, an Gut und Böse zu glauben?«
    »Nein. Ich hörte nur auf zu glauben, dass es eine Macht des Guten und eine Macht des Bösen außerhalb von uns gibt. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass Gut und Böse etwas bezeichnen, was Menschen tun, nicht was sie sind. Man kann nur sagen, eine bestimmte Handlung ist gut, weil sie jemandem hilft, oder böse, weil sie jemandem wehtut. Die Menschen selbst sind zu komplex für solche simplen Etiketten.« »Das stimmt«, sagte Lyra sofort.
    »Sind Sie traurig, dass Gott nicht mehr da ist?«, fragte Will.
    »Ja«, erwiderte Mary, »schrecklich traurig, bis heute. Am meisten vermisse ich das Gefühl des Einsseins mit dem ganzen Universum. Früher glaubte ich, mit Gott und über Ihn mit Seiner Schöpfung verbunden zu sein. Doch wenn es Gott nicht gibt, dann ... «
    Weit draußen auf den Salzwiesen rief ein Vogel mit einer melancholisch abfallenden Folge von Tönen. Im Feuer fiel polternd ein Scheit nach unten, das Gras bewegte sich sacht in der nächtlichen Brise, und Atal döste wie eine Katze vor sich hin. Ihre Räder lagen neben ihr im Gras. Die Beine hatte sie unter dem Körper zusammengefaltet und die Augen halb geschlossen. Sie schien mit ihren Gedanken weit fort zu sein. Will lag auf dem Rücken und starrte zu den Sternen hinauf.
    Lyra

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