Das Bernstein-Teleskop
Mary. »Weil ich eine gute Physikerin war, durfte ich an der Universität bleiben. Ich promovierte und wurde Dozentin. Mein Orden gehörte nicht zu denen, die ihre Mitglieder im Kloster einsperren. Nicht einmal eine Ordenstracht mussten wir tragen, nur schlichte Kleider und ein Kruzifix. Ich wurde also Dozentin an der Universität. Mein Forschungsbereich war die Teilchenphysik.
Dann wurde ic h gebeten, auf einer Konferenz zu meinem Thema einen Vortrag zu halten. Die Konferenz fand in Lissabon statt, einer Stadt, in der ich noch nie gewesen war. Ich hatte nicht einmal England je verlassen. Also, ich kann euch sagen, das war vielleicht aufregend. Alles war für mich neu - der Flug, das Hotel, die viele Sonne, die Fremdsprachen, die berühmten Forscher, die Vorträge halten sollten, und mein eigener Vortrag. Ich malte mir schon aus, dass vielleicht gar keine Zuhörer kommen würden oder ich vielleicht vor lauter Aufregung kein Wort herausbrächte ... Ihr dürft nicht vergessen, ich war ja so unschuldig. Immer war ich brav gewesen, war regelmäßig zur Messe gegangen und hatte mich zum geistlichen Leben berufen gefühlt. Ich wollte Gott von ganzem Herzen dienen. Mein ganzes Leben wollte ich Jesus zu Füßen legen -« Mary legte die Hände aneinander und hob sie empor. »- Er sollte darüber verfügen. Ich muss ungeheuer selbstgefällig gewesen sein. Eine Heilige war ich und so intelligent! Ha! Vor sieben Jahren war alles vorbei, am zehnten August um halb zehn Uhr abends.«
Lyra setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie, den Blick unverwandt auf Mary gerichtet.
»Es war der Abend des Tages, an dem ich meinen Vortrag gehalten hatte«, fuhr Mary fort. »Alles war gut gegangen, sogar einige bekannte Leute hatten zugehört. Ich hatte die Fragen beantwortet, ohne mich zu verheddern, und war froh und erleichtert ... und natürlich stolz ... Jedenfalls wollten einige meiner Kollegen in einem Restaurant an der Küste essen, und sie fragten mich, ob ich mitkäme. Sonst hatte ich mich immer mit einer Ausrede gedrückt, aber an diesem Abend dachte ich: Ich bin erwachsen, ich habe erfolgreich einen Vortrag zu einem wichtigen Thema gehalten, und ich bin ja unter Freunden ... Ich meinte, mir auch mal etwas gönnen zu dürfen. Es war wunderbar warm, wir redeten über die Dinge, die mich am meisten interessierten, und wir waren alle bestens gelaunt. Ich entdeckte eine neue Seite an mir, eine, die an Wein, gegrillten Sardinen, der warmen Luft auf meiner Haut und der Musik im Hintergrund Gefallen fand. Ich genoss das alles in vollen Zügen. Wir setzten uns also zum Essen in den Garten. Ich saß am Ende eines langen Tisches unter einem Zitronenbaum, neben mir stand eine Art Laube, die mit Passionsblumen überwachsen war. Mein Nachbar unterhielt sich mit seiner anderen Tischnachbarin und ... Na ja, gegenüber von mir saß ein Mann, den ich ein- oder zweimal auf der Konferenz gesehen hatte. Gesprochen hatte ich ihn nicht. Er war Italiener und hatte mit einigen Arbeiten von sich reden gemacht. Ich dachte mir, es wäre interessant, mehr darüber zu erfahren. Er war nur wenig älter als ich, hatte weiche schwarze Haare, eine schöne, olivfarbene Haut und ganz dunkle Augen. Die Haare fielen ih m immer in die Stirn, und dann schob er sie ganz langsam wieder zurück, ungefähr so ... «
Mary machte es den anderen vor. Sie erinnert sich wirklich gut daran, dachte Will.
»Er war nicht hübsch«, sagte Mary, »kein Frauenheld oder Charmeur. Dann hätte ich mich sowieso nicht getraut, ihn anzusprechen. Ich hätte nicht gewusst, was ich sagen sollte. Doch er war nett, witzig und intelligent, und es war die leichteste Sache auf der Welt, im Schein der Laterne unter dem Zitronenbaum zu sitzen, umgeben vom Duft der Blumen und dem vielen Essen und Wein, und zu reden und zu lachen. Ich merkte, dass ich hoffte, er würde mich attraktiv finden. Schwester Mary Malone beim Flirten! Und mein Gelübde? Das Jesus geweihte Leben und so weiter? Ich weiß nicht, ob es der Wein war oder meine Dummheit oder die Hitze oder der Zitronenbaum oder sonst was ... Jedenfalls kam es mir auf einmal so vor, als hätte ich mir etwas eingeredet, das gar nicht stimmte. Ich hatte mir eingeredet, ich sei auch ohne die Liebe glücklich und zufrieden und hätte ein erfülltes Leben. Verliebt zu sein, das kam mir vor wie China: Man wusste, dass es China gab, und es war auch sicher ein sehr interessantes Land und einige Menschen fuhren hin, aber ich sicher nie, ich würde nie
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