Das Bernstein-Teleskop
etwas und richteten ihre Blicke zum Himmel. Ein Licht kam auf sie zu, ein Licht mit Flügeln.
»Das ist bestimmt der Engel, den wir neulich gesehen haben«, vermutete Pantalaimon.
Und damit lag er richtig. Während der Junge und das Mädchen mit ihren beiden Dæmonen den näher kommenden Engel beobachteten, spannte Xaphania ihre Flügel noch weiter aus und segelte auf den Sandstrand. Obwohl Will eine Zeit lang in Gesellschaft Balthamos' verbracht hatte, war er auf diese seltsame Begegnung nicht vorbereitet. Er und Lyra hielten sich fest an der Hand, als Xaphania, umgeben vom Licht einer anderen Welt, auf sie zukam. Sie erschien unbekleidet vor ihnen, doch das hieß nicht viel: Was für Kleider hätte ein weiblicher Engel tragen können, dachte Lyra. Ihr Alter, ob jung oder alt, entzog sich jeder Schätzung. Ihr Gesicht war ernst und mitleidsvoll, und Will und Lyra hatten den Eindruck, als ob sie ihnen bis auf den Grund des Herzens schauen könnte.
»Will«, sagte sie, »ich bin gekommen, um deine Hilfe zu erbitten.«
»Meine Hilfe? Wie könnte ich dir helfen?«
»Ich möchte dich bitten, mir zu zeigen, wie man die Öffnungen verschließt, die das Messer schneidet.«
Will schluckte. »Ich zeige es dir«, sagte er, »aber kannst du auch uns helfen?«
»Nicht so, wie ihr es euch wünscht. Ich weiß, worüber ihr gesprochen habt. Euer Kummer hat Spuren in der Luft hinterlassen. Das mag euch zwar kein Trost sein, aber glaubt mir, jedes Wesen, das von eurer Not weiß, wünscht sich, dass die Dinge anders lägen. Aber es gibt nun einmal Schicksale, in die sich selbst die Mächtigen fügen müssen. Am Lauf der Welt kann ich nichts ändern, so gern ich euch auch helfen würde.«
»Warum -«, begann Lyra und fand ihre Stimme dünn und zitterig, »warum kann ich das Alethiometer nicht mehr ablesen? Warum gelingt mir selbst das nicht mehr? Das war das Einzige, was ich wirklich gut konnte, und nun ist diese Fähigkeit weg und verschwunden, als ob ich sie nie besessen hätte ...«
»Die Fähigkeit wurde dir als Gnade zuteil«, sagte Xaphania und schaute Lyra an, »und du kannst sie durch Arbeit wiedererlangen.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Ein ganzes Leben.«
»Das ist lang ...«
»Aber du würdest nach einer lebenslangen geistigen Anstrengung das Instrument noch viel besser lesen können, weil die Deutung dann aus bewusstem Verstehen käme. Gnade, die nach lebenslanger Anstrengung erreicht wird, ist tiefer und vollkommener als die, die unverhofft über einen kommt. Außerdem wird dir eine solchermaßen erworbene Fähigkeit nie verloren gehen.«
»Meinst du wirklich ein ganzes Leben?«, flüsterte Lyra. »Ein ganzes langes Leben? Nicht nur ein paar Jahre?«
»Ja, genau das«, bekräftigte Xaphania.
»Und müssen alle Fenster verschlossen werden?«, fragte Will. »Jedes einzelne?«
»Bedenke Folgendes«, sagte Xaphania. »Staub ist keine konstante Größe, die in bestimmter Menge immer existiert hätte. Vernunftbegabte Wesen erzeugen Staub - sie erneuern ihn ständig durch ihr Denken und Fühlen, durch ihr Ansammeln von Wissen und die Weitergabe dieses Wissens. Und wenn ihr eure Mitmenschen in euren Welten zu diesem Prozess anregt, indem ihr ihnen helft, sich selbst und die anderen zu verstehen, ihnen helft, die Dinge zu erfassen und zu erkennen, wie alles ineinander greift, und indem ihr sie lehrt, freundlich statt grausam, geduldig statt ungehalten und fröhlich statt missmutig zu sein, vor allem aber, wie man sich einen offenen, freien und neugierigen Geist bewahrt ... Wenn ihr das tut, dann werden sie genug Staub erzeugen, um die Verluste, die durch ein Fenster entstehen, zu ersetzen. In diesem Fall könnte eines offen bleiben.«
Will bebte vor Erregung und kannte nur ein Ziel: ein neues Fenster in der Luft zwischen seiner und Lyras Welt. Das wäre dann ihr Geheimnis und sie könnten hindurchsteigen, wann sie wollten, und für eine Weile in der Welt des anderen leben, so dass sich die Dæmonen ihre Gesundheit bewahrten. Sie könnten gemeinsam erwachsen werden und, wer weiß, später einmal Kinder haben, die dann geheime Staatsbürger zweier Welten wären; ihre Kinder würden das Wissen der einen Welt in die andere bringen und so könnten sie viel Gutes tun
Doch Lyra schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie klagend, »das können wir nicht machen, Will -« Und plötzlich erriet er ihren Gedanken und im gleichen klagenden Ton sagte er: »Nein, die Toten -«
»Wir müssen das Fenster für sie offen
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