Das Bernstein-Teleskop
«
»Nein«, sagte Xaphania. »Keine Einbildung. Sich etwas ein bilden ist leicht. Das hier ist schwer, aber viel wahrhaftiger.«
»Ist es wie mit dem Alethiometer?«, fragte Will. »Braucht man ein ganzes Leben, um es zu erlernen?«
»Ja, man muss lange üben. Daran arbeiten. Dachtet ihr vielleicht, es genüge mit den Fingern zu schnippen, damit einem alles in den Schoß fällt? Für Besitz, der wirklich etwas wert ist, muss auch gearbeitet werden. Aber ihr habt einen Freund, der schon die ersten Schritte getan hat und der euch helfen könnte.«
Will hatte keine Ahnung, wer damit gemeint sein könnte, doch war er jetzt nicht in Stimmung, nach dem Namen zu fragen.
»Ich verstehe«, sagte er mit einem Seufzer. »Werden wir uns wieder sehen? Werden wir jemals wieder mit einem Engel sprechen, wenn wir erst einmal in unsere angestammten Welten zurückgekehrt sind?« »Das weiß ich nicht«, sagte Xaphania. »Doch solltet ihr eure Zeit nicht mit Warten verschwenden.«
»Und ich sollte das Messer zerbrechen«, sagte Will.
»Ja.«
Während sie miteinander geredet hatten, war das Fenster neben ihnen offen geblieben. Die Lichter der Fabrik leuchteten, der Betrieb ging weiter; Maschinen drehten sich, Chemikalien reagierten miteinander, Menschen produzierten Waren und verdienten damit ihren Lebensunterhalt. Das war die Welt, in die Will gehörte.
»Ich zeige dir jetzt, wie es geht«, sagte er.
So wie es ihm Giacomo Paradisi vorgeführt hatte, so zeigte er nun dem Engel, wie man nach den Kanten des Fensters suchte, sie mit den Fingerspitzen ertastete und dann zusammendrückte. Stück für Stück schloss sich das Fenster und die Fabrik verschwand.
»Aber die Öffnungen, die nicht mit dem Magischen Messer geschnitten wurden«, bohrte Will weiter, »müssen die wirklich alle geschlossen werden? Denn Staub entweicht mit Sicherheit nur durch die Öffnungen, die das Messer geschnitten hat. Die anderen dürften seit Tausenden von Jahren bestehen, und trotzdem gibt es immer noch Staub.«
»Wir werden sie alle schließen«, antwortete ihm Xaphania, »denn wenn ihr meint, dass noch einige übrig geblieben sein könnten, würdet ihr euer Leben damit verbringen, nach ihnen zu suchen, und das wäre Zeitverschwendung für euch. Ihr habt anderes zu tun, Wichtiges und Nützlicheres, in eurer Welt. Das Reisen zwischen den Welten wird ein Ende haben.«
»Wie sieht dann die Arbeit aus, die ich übernehmen soll?«, fragte Will, besann sich aber sofort. »Nein, sag es mir besser nicht. Ich muss selbst entscheiden, was ich tue. Wenn du mir sagen würdest, meine Arbeit bestehe im Kämpfen oder Heilen oder Entdecken oder was auch immer, dann würde das stets in meinen Gedanken herumspuken. Und wenn ich mich schließlich dazu durchringen würde, könnte ich doch im Stillen grollen, weil es so aussähe, als hätte ich keine Wahl gehabt. Und wenn ich die Arbeit dann nicht machen würde, hätte ich ein schlechtes Gewissen. Ganz gleich was ich auch tue, ich möchte es selbst entscheiden und niemand sonst.«
»In diesem Fall hast du bereits den ersten Schritt zur Weisheit getan«, sagte Xaphania.
»Draußen auf dem Meer ist ein Licht«, rief Lyra.
»Das ist das Schiff, mit dem eure Freunde kommen, um euch nach Hause zu holen. Sie werden morgen hier sein.«
Das Wort »morgen« traf wie ein schwerer Schlag. Lyra hätte nie gedacht, dass sie beim Gedanken an ein Wiedersehen mit Farder Coram, John Faa und Serafina Pekkala Widerwillen empfinden könnte. »Ich muss jetzt gehn«, sagte Xaphania, »denn ich habe ja erfahren, was ich wissen wollte.«
Sie nahm jedes der Kinder in ihre liebevollen, kühlen Arme und küsste sie auf die Stirn. Dann bückte sie sich und küsste auch die Dæmonen, die darauf sogleich zu Vögeln wurden und mit ihr emporflogen, als sie die Flügel ausbreitete und sich rasch in die Luft erhob. Nur wenige Sekunden später war Xaphania bereits ihren Blicken entschwunden. Kurz nachdem der Engel sie verlassen hatte, seufzte Lyra schwer.
»Was gibt es denn?«, fragte Will mitfühlend.
»Ich habe den Engel nicht nach meinem Vater und meiner Mutter gefragt - und das Alethiometer kann ich auch nicht mehr befragen ... Ob ich es wohl jemals erfahren werde?«
Sie ließ sich langsam nieder und er setzte sich neben sie.
»Oh, Will«, stöhnte das Mädchen, »was können wir tun? Ich möchte für immer mit dir zusammenleben. Ich möchte dich küssen, mich mit dir hinlegen und am anderen Morgen wieder mit dir aufstehen, und das alle
Weitere Kostenlose Bücher