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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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spielten sie und ihr Dæmon ein Spiel. Sie kraxelten die Felsen hoch, um kleine, grünweiße Wasserfälle herum, an schäumenden Strudeln vorbei und durch die Gischt, die in allen Farben des Regenbogens schimmerte, bis Amas Haare und Lider und das Eichhörnchenfell ihres Dæmons mit einer Million winziger Wasserperlen besetzt waren. Ziel des Spiels war, bis ganz hinaufzuklettern ohne sich, so groß die Versuchung auch sein mochte, das Wasser aus den Augen zu wischen. Schon bald funkelte und glitzerte die Sonne in Rot, Gelb, Grün, Blau und allen Zwischentönen, aber Ama durfte sich nicht mit der Hand über die Augen fahren, um besser sehen zu können, sonst hatte sie verloren.
    Kulang, ihr Dæmon, sprang auf die Schwelle des obersten Wasserfalls, und das Mädchen wusste, gleich würde er sich umdrehen, um sich zu vergewissern, dass sie sich an die Spielregeln hielt - nur drehte er sich nicht um.
    Stattdessen verharrte er unbewegt auf seinem Platz und starrte in die andere Richtung.
    Ama trocknete sich die Augen. Das Erschrecken ihres Dæmons hatte das Spiel unterbrochen. Sie zog sich das letzte Stück hinauf und spähte über die Kante. Der Atem stockte ihr und sie verharrte regungslos. Auf sie starrte ein Tier herunter, wie sie es noch nie gesehen hatte - ein riesiger und Furcht erregender Bär, viermal so groß wie die Braunbären im Wald und elfenbeinweiß, mit einer schwarzen Nase, schwarzen Augen und Krallen so lang wie Dolchen. Er war nur eine Armlänge von ihr entfernt. Ama konnte jedes einzelne Haar auf seinem Kopf erkennen.
    »Wer ist das?«, sagte die Stimme eines Jungen. Ama verstand die Worte nicht, aber sie erriet unschwer, was sie bedeuteten.
    Im nächsten Augenblick tauchte der Junge neben dem Bären auf. Er sah verwegen aus mit seiner finster gerunzelten Stirn und dem energisch vorgeschobenen Unterkiefer. Und was war das neben ihm für ein Dæmon in Vogelgestalt? Ein wirklich seltsames Tier, wie es ihr noch nie begegnet war. Es flog zu Kulang. Freunde, sagte der Vogel nur. Wir tun euch nichts.
    Der große, weiße Bär hatte sich noch nicht gerührt.
    »Komm rauf«, sagte der Junge und wieder gab ihr Dæmon ihr zu verstehen, was er meinte.
    Ohne den Bären in ihrer abergläubischen Scheu aus den Augen zu lassen, kletterte Ama ganz hinauf. Oben blieb sie ängstlich stehen. Kulang verwandelte sich in einen Schmetterling, ließ sich für einen Augenblick auf ihrer Wange nieder, flog wieder auf und flatterte um den anderen Dæmon herum, der bewegungslos auf der Hand des Jungen saß.
    »Will«, sagte der Junge und zeigte auf sich
    »Ama«, erwiderte das Mädchen.
    Jetzt, von nahem, flößte der Junge ihr fast noch mehr Angst ein als der Bär. Er hatte eine schreckliche Wunde: Zwei seiner Finger fehlten. Dem Mädchen wurde ganz schwindlig, als es die Verstümmelung sah. Der Bär ging einige Schritte an dem milchfarbenen Bach entlang und legte sich dann ins Wasser, wie um sich abzukühlen. Der Dæmon des Jungen flog auf, flatterte mit Kulang durch die Regenbogen, und ganz allmählich begannen der Junge und Ama einander zu verstehen.
    Und was suchte der Junge? Natürlich eine Höhle mit einem schlafenden Mädchen.
    Die Antwort sprudelte nur so aus Ama heraus. »Ich weiß, wo die Höhle ist! Und das Mädchen muss schlafen, weil eine Frau es will. Die Frau sagt, sie sei seine Mutter, aber eine Mutter könnte nicht so grausam sein, oder? Sie zwingt das Mädchen, etwas zu trinken, damit es weiterschläft, aber ich habe ein Pulver, mit dem ich es aufwecken kann, wenn ich nur in seine Nähe käme!«
    Will konnte nur den Kopf schütteln und warten, bis Balthamos für ihn übersetzt hatte. Das dauerte seine Zeit. »Iorek«, rief er dann. Der Bär trottete durch den Bach und leckte sich die Lippen. Er hatte gerade einen Fisch verschlungen.
    »Iorek«, rief Will. »Das Mädchen sagt, sie weiß, wo Lyra ist. Ich gehe mit ihr und sehe nach. Du bleibst hier und passt auf.«
    Der Bärenkönig nickte stumm und stellte sich wieder ins Wasser. Will versteckte seinen Rucksack und schnallte das Messer um, dann stieg er mit Ama durch die Regenbogen nach unten. Immer wieder musste er sich das Wasser aus den Augen wischen und angestrengt durch die leuchtende Gischt starren, um einen sicheren Halt für seine Füße zu finden. Eisiger Wasserdunst umgab sie.
    Sie gelangten ans untere Ende der Wasserfälle. Ama bedeutete ihm, dass sie jetzt ganz vorsichtig sein mussten und keinen Lärm machen durften. Hinter ihr stieg Will zwischen

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