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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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dass sie sogar noch viel wichtiger waren, als sie jetzt vermuten konnte.
    Die Mulefa verbrachten einen Großteil ihrer Zeit mit der Pflege der Räder. Durch geschicktes Anheben und Drehen zogen sie die Kralle aus dem Loch, und dann untersuchten sie das Rad eingehend mit dem Rüssel, säuberten den Rand und suchten das Ganze nach Rissen ab. Die Kralle, ein Sporn aus Horn oder Knochen, der rechtwinklig und leicht gekrümmt vom Bein abstand, war ungeheuer stark. Der höchste Teil in der Mitte trug das Gewicht, wenn die Kralle im Loch steckte. Mary beobachtete einmal, wie ein Zalif das Loch seines Vorderrads inspizierte, es an verschiedenen Stellen berührte und den Rüssel immer wieder hob und senkte, wie um den Geruch zu überprüfen.
    Mary fiel das Öl an ihren Fingern ein, als sie jene erste Samenkapsel untersucht hatte. Mit Erlaubnis des Zalifs betrachtete sie dessen Kralle genauer. Die Oberfläche fühlte sich so glatt an, wie Mary es aus ihrer Welt gar nicht kannte. Ihre Finger rutschten geradezu daran ab. Die Klaue schien über und über mit dem schwach duftenden Öl imprägniert zu sein. Nachdem sie wiederholt beobachtet hatte, wie die Dorfbewohner den Zustand ihrer Räder und Klauen tastend und riechend überprüften, fragte sie sich allmählich, was zuerst da gewesen war: das Rad oder die Klaue? Der Fahrer oder der Baum?
    Natürlich gehörte noch ein dritter Faktor dazu, nämlich die Beschaffenheit des Geländes. Die Mulefa konnten mit ihren Rädern nur in einer Welt fahren, in der es natürliche Straßen gab. Dank der mineralischen Zusammensetzung der in Bändern über die endlose Savanne laufenden Lava konnten Wind und Wetter ihnen offenbar nichts anhaben, sie wurden nicht einmal rissig. Mary begriff nach und nach, wie alles zusammenhing und die Einheimischen sich in den vorgefundenen Gegebenheiten eingerichtet hatten. Die Mulefa kannten die Standorte sämtlicher Herden, alle Wäldchen, in denen Bäume mit Radsamenkapseln standen, und alle Stellen, an denen Süßgras wuchs. Und sie kannten jedes einzelne Weidetier und jeden einzelnen Baum und pflegten alle und nutzten sie für sich. Bei einer Gelegenheit sah Mary, wie die Mulefa einige Tiere aus einer Herde aussonderten, sie wegführten und ihnen anschließend mit einem gewaltigen Schlag des Rüssels das Genick brachen. Nichts wurde verschwendet. Mit rasiermesserscharfen Steinsplittern, die sie in den Rüsseln hielten, häuteten die Mulefa die Tiere innerhalb von Minuten, brachen sie auf und zerlegten sie kundig. Sie trennten Innereien, mageres Fleisch, Fett und Knorpelstücke und entfernten Hörner und Hufe. So geschickt arbeiteten sie, dass Mary ihnen mit einem Vergnügen zusah, wie sie es immer bei Leuten empfand, die sich auf ihre Arbeit verstanden. Bald hingen Fleischstücke zum Trocknen in der Sonne und andere wurden in Salz eingelegt und in Blätter gewickelt. Von den Häuten kratzte man das Fett ab - es würde später noch verwendet werden -, dann versenkte man sie zum Gerben in mit Eichenrinde gefüllten Wassergruben. Das älteste Junge spielte mit zwei Hörnern. Es tat so, als sei es ein Weidetier und brachte damit die anderen Jungen zum Lachen. Am Abend gab es frisches Fleisch zu essen. Auch Mary schlemmte in vollen Zügen.
    Ähnlich wussten die Mulefa, wo es die besten Fische gab und wann und wo genau sie ihre Netze auslegen mussten. Auf der Suche nach einer Beschäftigung ging Mary zu den Netzknüpfern und bot ihre Hilfe an. Als sie sah, wie die Mulefa arbeiteten, nicht jeder für sich nämlich, sondern immer zu zweit, weil sie jeweils zwei Rüssel brauchten, um einen Knoten zu knüpfen, fiel ihr ein, wie die Mulefa über ihre Hände gestaunt hatten, mit denen sie natürlich ganz allein solche Tätigkeiten ausführen konnte. Zuerst hatte sie das Gefühl, den Mulefa dadurch überlegen zu sein - sie brauchte niemand anders. Doch dann wurde ihr klar, dass sie sich dadurch von den anderen isolierte. Vielleicht waren alle Menschen so. Von da an verwendete sie nur noch eine Hand zum Knotenknüpfen und teilte die Arbeit mit einem weiblichen Zalif, mit dem sie sich besonders angefreundet hatte. So bewegten sich Finger und Rüssel im Gleichklang hin und her.
    So besonnen die Mulefa auch mit Tieren und Pflanzen umgingen, die größte Sorgfalt verwendeten sie auf die Bäume mit den Samenkapseln.
    Etwa ein halbes Dutzend Wäldchen lag innerhalb des Gebiets, für das sie zuständig waren. Es gab auch noch andere Gehölze weiter weg, aber sie fielen in die

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