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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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verwirrenden Stimme.
    »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«, fragte er heiser.
    »Lyra sagte deinen Namen im Schlaf.«
    »Wo ist sie?«
    »In Sicherheit.«
    »Ich will sie sehen.«
    »Dann komm mit.« Sie stand auf und ließ das Buch auf den Stuhl fallen.
    Zum ersten Mal seit er die Höhle betreten hatte, betrachtete Will den Affen-Dæmon genauer. Er hatte lange, glänzende Haare wie aus purem Gold und viel feiner als die eines Menschen, und sein kleines Gesicht und seine Hände waren schwarz. Will hatte das Gesicht zuletzt im Haus von Sir Charles Latrom in Oxford gesehen, an jenem Abend, als er und Lyra das Alethiometer zurückgeholt hatten. Damals war die Affenmiene von Hass verzerrt gewesen. Der Dæmon hatte sich mit gefletschten Zähnen auf ihn stürzen wollen, doch Will hatte mit dem Messer vor ihm herumgefuchtelt und ihn gezwungen zurückzuweichen, damit er das Fenster schließen und ihn in der anderen Welt einsperren konnte. Nichts und niemand konnte Will dazu bringen, diesem Affen jemals wieder den Rücken zuzukehren.
    Doch Balthamos in Gestalt eines Vogels behielt ihn aufmerksam im Auge, und so folgte Will Mrs. Coulter vorsichtig in den hinteren Teil der Höhle. Dort lag eine kleine Gestalt reglos im Dunkel.
    Und dann erblickte er sie endlich wieder, seine liebste Freundin, die fest schlief. Wie klein sie wirkte! Er war erstaunt, dass Lyra, die sonst vor Tatendrang sprühte, im Schlaf so friedlich aussah. An ihrem Hals lag Pantalaimon in Gestalt eines Iltisses. Sein Fell glänzte, und Lyras Haare klebten feucht an ihrer Stirn.
    Der Junge kniete sich neben sie und strich ihr die Haare aus der Stirn. Ihr Gesicht war heiß. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der goldene Affe sich zum Sprung duckte. Will griff nach seinem Messer, doch Mrs. Coulter schüttelte kaum merklich den Kopf und der Affe richtete sich wieder auf.
    Ohne sich etwas davon anmerken zu lassen, prägte Will sich den Aufbau der Höhle genau ein, die Form und Größe der einzelnen Felsen, die Neigung des Bodens und die Höhe der Decke über der schlafenden Lyra. Beim nächsten Mal musste er den Weg im Dunkeln finden, und noch einmal würde er die Höhle vorher nicht zu sehen bekommen.
    »Du siehst selbst, hier kann ihr nichts passieren«, sagte Mrs. Coulter. »Warum haben Sie sie hierher gebracht? Und warum lassen Sie sie nicht aufwachen?«
    »Setzen wir uns doch.«
    Die Frau nahm nicht auf dem Stuhl Platz, sondern neben ihm auf den bemoosten Steinen am Eingang der Höhle. Sie klang so freundlich und ihre Augen leuchteten so traurig und wissend, dass Will immer misstrauischer wurde. Er hatte das Gefühl, jedes Wort, das sie sagte, sei eine Lüge, jede Bewegung eine versteckte Drohung und jedes Lächeln Verstellung. Gut, dann musste er sie eben auch täuschen und glauben machen, er sei ganz harmlos. Immerhin hatte Will erfolgreich sämtliche Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter und Nachbarn getäuscht, die sich je für ihn und sein Zuhause interessiert hatten. Er hatte sich sozusagen sein ganzes Leben lang auf das vorbereitet, was er jetzt tun musste.
    Also, dachte er, mit Ihnen werde ich fertig.
    »Möchtest du etwas trinken?«, fragte Mrs. Coulter. »Ich trinke auch etwas ... du brauchst nichts zu befürchten. Schau.«
    Sie schnitt einige verrunzelte, braune Früchte auf und drückte den trüben Saft in zwei kleine Becher. Dann nippte sie an einem und reichte den anderen Will, der ebenfalls einen Schluck nahm. Der Saft schmeckte süß und erfrischend.
    »Wie hast du uns gefunden?«, fragte sie.
    »Es war nicht schwer, Ihnen zu folgen.«
    »Offensichtlich. Hast du Lyras Alethiometer?«
    »Ja«, sagte er. Sollte sie sich ruhig den Kopf zerbrechen, ob er es lesen konnte oder nicht.
    »Und du besitzt ein Messer, soviel ich weiß.«
    »Das wissen Sie von Sir Charles, stimmt's?«
    »Sir Charles? Ach - Carlo, natürlich. Ja, stimmt. Das klingt ja interessant. Darf ich es sehen?«
    »Natürlich nicht«, sagte er. »Warum halten Sie Lyra hier fest?«
    »Weil ich sie liebe. Ich bin ihre Mutter. Sie schwebt in schrecklicher Gefahr, und ich lasse nicht zu, dass ihr etwas passiert.«
    »Gefahr von wem?«, fragte Will.
    »Hm ... « Sie beugte sich vor und stellte den Becher auf den Boden. Ihre Haare fielen dabei auf beiden Seiten ihres Gesichts herunter. Als Mrs. Coulter sich wieder aufrichtete, schob sie rasch mit den Händen die Strähnen hinter die Ohren. Will roch den Duft ihres Parfüms und den frischen Geruch ihres Körpers, und wieder war er

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