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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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verwirrt.
    Mrs. Coulter ließ sich nicht anmerken, ob ihr seine Reaktion aufgefallen war oder nicht.
    »Hör zu, Will«, sagte sie, »ich weiß nicht, wie du meine Tochter kennen gelernt hast, ich weiß nicht, was du schon weißt, und ich weiß erst recht nicht, ob ich dir vertrauen kann. Doch ich bin der ständigen Lügen müde und sage dir deshalb jetzt die Wahrheit. Ich habe herausgefunden, dass meiner Tochter Gefahr droht, und zwar ausgerechnet von der Institution, zu der ich selbst lange Zeit gehörte von der Kirche. Offen gesagt, ich glaube, man will sie töten. So fand ich mich in einer schwierigen Situation wieder: Entweder ich gehorchte der Kirche oder ich rettete meine Tochter. Und ich war doch bisher immer eine treue Dienerin der Kirche gewesen. Niemand arbeitete eifriger für sie als ich. Mein ganzes Leben hatte ich ihr gewidmet, ich diente ihr mit aller Inbrunst.
    Andererseits hatte ich eine Tochter ...
    Ich weiß, ich habe mich nicht um sie gekümmert, als sie klein war. Sie wurde mir weggenommen und von Fremden aufgezogen. Vielleicht hat sie deshalb kein Vertrauen zu mir. Doch dann wurde Lyra älter und ich erkannte die Gefahr, in der sie schwebte. Dreimal habe ich bereits versucht, sie zu retten. Ich musste der Kirche abtrünnig werden und meine Tochter hier an diesem abgelegenen Ort verstecken. Ich glaubte, hier wären wir sicher. Doch jetzt muss ich erfahren, dass du uns ohne Mühe gefunden hast - du verstehst sicher, dass mir das Angst einflößt. Sicher findet die Kirche mich auch bald, und dann wird sie versuchen, meine Tochter zu töten, Will.«
    »Aber warum? Warum hasst die Kirche sie so sehr?«
    »Weil sie fürchtet, dass Lyra etwas ganz Bestimmtes tun wird. Ich weiß nicht, worum es sich dabei handelt, aber ich wollte, ich wüsste es, denn dann könnte ich Lyra noch besser schützen. Ich weiß nur, dass die Kirche sie hasst, und zwar erbarmungslos. Erbarmungslos!«
    Mrs. Coulter beugte sich vor. »Warum erzähle ich dir das alles?«, fuhr sie leise und drängend fort. »Kann ich dir vertrauen? Ich glaube, mir bleibt nichts anderes übrig. Ich weiß nicht mehr, wo ich mich verstecken soll, ich kann nirgendwo mehr hin. Und wenn du ein Freund Lyras bist, bist du vielleicht auch meiner. Und ich brauche Freunde, ich brauche Hilfe. Alle haben sich gegen mich verschworen. Die Kirche wird auch mich töten, genau wie Lyra, wenn sie uns findet. Ich bin allein, Will, ganz allein mit meiner Tochter in einer Höhle, und alle Welten sind mit einer Streitmacht hinter uns her. Und jetzt kommst du und führst mir vor Augen, wie leicht es ist, uns zu finden. Was wirst du tun, Will?« »Warum lassen Sie Lyra nicht aufwachen?«, bohrte er hartnäckig nach, ohne auf ihre Frage einzugehen.
    »Was wäre dann? Sie würde sofort weglaufen und keine fünf Tage überleben.«
    »Aber warum erklären Sie ihr das nicht und lassen sie dann selbst entscheiden?«
    »Meinst du, Lyra würde mir zuhören? Meinst du, sie würde mir glauben, selbst wenn sie mir zuhörte? Sie traut mir nicht, sie hasst mich, Will, vergiss das nicht. Sie verachtet mich. Ich, ja ... Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll ... Ich liebe sie so sehr, dass ich alles aufgegeben habe, was ich hatte - eine glänzende Karriere, ein erfülltes Leben, meine Stellung und meinen Besitz - auf alles habe ich verzichtet und mich in diese Höhle im Gebirge zurückgezogen, um von trockenem Brot und sauren Früchten zu leben, nur damit meine Tochter leben kann. Und wenn sie deshalb nicht aufwachen darf, dann nehme ich auch das in Kauf. Aber sie muss leben. Deine Mutter würde für dich sicher dasselbe tun!«
    Will war empört und wütend, dass Mrs. Coulter es wagte, ihm mit seiner Mutter zu kommen. Doch dann musste er daran denken, dass seine Mutter ihn nicht beschützt hatte; vielmehr hatte er sie beschützen müssen. Liebte Mrs. Coulter Lyra etwa mehr als Elaine Parry ihn? Aber damit tat er seiner Mutter Unrecht. Sie war schließlich krank.
    Entweder bemerkte Mrs. Coulter nichts von dem Gefühlstumult, den ihre Worte in ihm ausgelöst hatten, oder sie konnte sich glänzend verstellen. Sie sah Will mit ihren schönen Augen zärtlich an, und Will wurde rot und rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Einen Augenblick lang sah Mrs. Coulter ihrer Tochter so ähnlich, dass ihm ganz unheimlich wurde.
    »Was wirst du denn jetzt tun?«, fragte sie noch einmal.
    »Ich habe Lyra ja jetzt gesehen«, sagte Will. »Sie lebt, so viel ist klar, und wahrscheinlich ist

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