Das Bernstein-Teleskop
sie auch einigermaßen sicher. Mehr wollte ich nicht wissen. Dann gehe ich jetzt zu Lord Asriel und helfe ihm, wie es mir bestimmt ist.«
Mrs. Coulter schien darüber ein wenig überrascht zu sein, doch fasste sie sich schnell wieder.
»Du willst doch nicht - kannst du uns nicht helfen?«, sagte sie ruhig, und es war keine Bitte, sondern eine Frage. »Mit dem Messer. Ich habe gesehen, was du damit in Sir Charles' Haus getan hast. Du könntest doch auch uns von hier forthelfen und in Sicherheit bringen.«
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Will und stand auf.
Sie streckte die Hand aus. Ein trauriges Lächeln, ein Schulterzucken und ein Nicken wie zu einem Gegner, der einen geschickten Zug auf dem Schachbrett getan hatte, mehr nicht. Er fand Mrs. Coulter sympathisch, denn sie war tapfer und wirkte wie eine komplexere, reifere und weisere Lyra. Der Junge konnte nicht anders, er mochte sie.
Deshalb gab er ihr die Hand. Die Hand fühlte sich kühl und weich an, und ihr Druck war fest. Mrs. Coulter wandte sich dem goldenen Affen zu, der die ganze Zeit hinter ihr gesessen hatte, und die beiden wechselten einen Blick, den Will nicht zu deuten vermochte.
Dann sah sie ihn wieder an und lächelte.
»Auf Wiedersehen«, sagte er.
»Auf Wiedersehen, Will«, erwiderte sie leise.
Er verließ die Höhle. Der Junge spürte, dass sie ihm nachsah, doch drehte er sich nicht um. Ama war nirgends zu sehen. Will ging den Weg zurück, den er gekommen war, bis er vor sich den Wasserfall hörte.
»Die lügt doch«, sagte er eine halbe Stunde später zu Iorek Byrnison. »Wie gedruckt lügt die. Die würde lügen, auch wenn sie dadurch alles nur noch schlimmer machte. Dafür lügt sie einfach zu gern. Sie kann gar nicht mehr damit aufhören.«
»Was hast du also vor?«, fragte der Bär. Er lag bäuchlings auf dem Schnee zwischen den Felsen und sonnte sich.
Nachdenklich ging Will auf und ab. Vielleicht konnte er es noch einmal mit dem Trick versuchen, der in Headington so gut funktioniert hatte, und mit dem Messer in eine andere Welt wechseln, von dort durch ein Fenster direkt neben Lyra in diese Welt zurückkehren, Lyra, in die andere Welt ziehen und das Fenster hinter sich schließen. Eigentlich die nächstliegende Lösung. Warum zögerte er also?
Balthamos kannte den Grund. Er hatte wieder seine Engelsgestalt angenommen und flimmerte wie die Luft in der Mittagshitze. »Es war töricht, sie zu besuchen«, sagte Balthamos. »Du willst sie nur wieder sehen.«
Iorek ließ ein tiefes Brummen vernehmen. Zuerst dachte Will, er wolle den Engel zurechtweisen, doch dann begriff er, dass der Bär Balthamos zustimmte. Der Junge wurde verlegen. Die beiden hatten einander bisher kaum beachtet, zu sehr unterschieden ihre Lebensweisen sich voneinander. In diesem Punkt allerdings waren sie offenbar einer Meinung.
Und Will musste widerwillig zugeben, dass sie damit Recht hatten. Mrs. Coulter hatte ihn mit ihrem Charme gefesselt. Seine Gedanken kreisten nur noch um sie. Wenn er an Lyra dachte, fragte er sich, ob sie später einmal wie ihre Mutter sein würde; wenn er an die Kirche dachte, überlegte er, wie viele Priester und Kardinäle Mrs. Coulter wohl verfallen waren; wenn er an seinen toten Vater dachte, überlegte er, ob er Mrs. Coulter verabscheut oder bewundert hätte; und wenn er an seine Mutter dachte ...
Der Junge spürte, wie ihm eng ums Herz wurde. Er ging ein paar Schritte zur Seite, zu einem Felsen, von dem aus er das ganze Tal überblicken konnte. Die Luft war klar und kalt. In der Ferne hörte er jemanden Holz hacken, das Bimmeln einer blechernen Glocke am Hals eines Schafes und, tief unter ihm, das Rauschen der Baumwipfel. Jede Felsspalte der Berge am Horizont war klar und deutlich zu sehen, genauso die Geier, die viele Kilometer entfernt über einem sterbenden Tier kreisten.
Kein Zweifel, Balthamos hatte Recht. Die Frau hatte ihm den Kopf verdreht. Immer wieder musste er an ihre Augen und ihre Stimme denken und daran, wie sie mit den Händen ihre glänzenden Haare zurückgeschoben hatte ...
Energisch riss er sich von seinen Tagträumen los. Im selben Augenblick hörte Will noch etwas, ein fernes Dröhnen.
Er versuchte festzustellen, woher es kam. Es kam aus Norden, aus der Richtung, aus der auch Iorek und er hierher gefunden hatten.
»Zeppeline«, hörte er den Bären sagen und fuhr zusammen, denn er hatte ihn nicht kommen hören. Iorek stand neben ihm und sah in dieselbe Richtung. Der Bär richtete sich auf und war auf
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