Das Bernsteinerbe
ist meine Mutter? Was weißt du von ihr?« Jäh warf er sie gegen die Bretterwand. Schmerzhaft bohrten sich seine Fingernägel durch den Mantelstoff in ihren Arm. Trotz des harschen Auftretens zitterte seine Stimme.
»Nichts«, entgegnete sie. »Nichts weiß ich von ihr.«
Kaum hatte sie das gesagt, erfasste sie Mitleid. Seit Jahren mussten ihn schreckliche Bilder von den vermeintlich letzten Stunden seiner Mutter quälen. Sie konnte ihm helfen, sich von dieser Pein zu befreien. Das war die einzige Chance, ein für alle Mal den wahren Mathias, den sie einst in den Wäldern vor Thorn entdeckt hatte, über die böse Fratze aus Erfurt siegen zu lassen.
»Vielleicht kann ich dir trotzdem helfen.« Sie hob die Hand und legte sie an seine Wange. Sofort wurde er ruhiger. Das Schwarz seiner Augen änderte sich erneut. Ein scheues Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich weiß jemanden, der dir mehr über deine Mutter sagen kann.«
»Doch nicht etwa Helmbrecht?« Abrupt kehrte das Böse in seine Augen zurück. Er stieß sie fort. Seine Stiefelspitze trat gegen einen unebenen Pflasterstein. »Vergiss es. Er wird mir nicht helfen. Schon letztens, als ich bei euch im Haus war, hat er sich nicht gerührt. Nicht einmal deine Mutter hat ihn überreden können, von seinem Schwur Adelaide gegenüber abzurücken. Er zürnt mir, weil ich seinen Rat nicht befolgt habe und von den Österreichern zu den Preußischen übergelaufen bin. Nie und nimmer springt er über seinen Schatten und verrät mir, wo ich meine Mutter finde.«
»Vertrau mir: Er wird«, beharrte sie.
»Wie denn? Willst du etwa diesen Tölpel von Medicus zu Hilfe bitten?«
»Lass Christoph aus dem Spiel! Er hat nichts damit zu tun.«
»Verzeih«, lenkte er ein. Ihre Entschiedenheit beeindruckte ihn.
»Ich weiß einen Weg, dem Helmbrecht nicht widerstehen kann«, setzte sie nach einer Pause nach.
»Das klingt, als verfügtest du doch über übernatürliche Kräfte.« Spöttisch sah er auf sie hinab. »Dann hatte meine Mutter damals in jener Nacht vor Thorn also doch recht.«
»Und wenn es so wäre?«
»Red keinen Unsinn!« Er tat entrüstet. Dennoch konnte er seine Unsicherheit nicht gänzlich verbergen.
Sie lächelte. »Keine Sorge, ich nutze meine Kräfte nur zu deinem Besten.« Beschwichtigend legte sie ihm die Hand auf den Arm, er aber schüttelte sie unwirsch ab.
»Mit so etwas treibt man keine Späße! Beschwör das Unglück nicht herauf. Du weißt, wie übel das ausgehen kann.«
»Sei kein Hasenfuß!« Ihr Schmunzeln wurde breiter. Eine befreiende Leichtigkeit erfüllte sie. »Es geht alles ganz ohne Zauberei. Ich kenne Helmbrecht besser als du. In den letzten vier Jahren hatte ich mehr als einmal Gelegenheit, sein Verhalten zu studieren. Vergiss nicht, Helmbrecht brennt darauf, von meiner Mutter endlich das entscheidende Ja zu hören.«
»Das aber keinesfalls du ihm geben kannst«, warf Mathias verärgert ein. »Genauso wenig wirst du deine Mutter dazu überreden können, es ihm meinetwegen zu geben.«
»Du bist immer noch derselbe Zauderer wie damals in Frankfurt. Dir fehlt einfach die Fähigkeit, einen Schritt weiter zu denken.«
»Aber du tust das!«, brauste er auf.
»Ja«, erwiderte sie ruhig, »ich tue das. Genau wie damals. Denk nur an unsere gemeinsame Zeit im Kontor meines Vaters. Weißt du noch, wie lange du über den Büchern gebrütet hast, während ich schon vor Langeweile gestorben bin?«
Beschämt sah er weg.
»Es ist einfacher, als du denkst«, lenkte sie ein. »Manchmal hat selbst meine Mutter schwache Momente, in denen sie gern meinen Rat hört. Und was den Weg zu deiner Mutter betrifft, so wird es zwar ein wenig dauern, doch glaub mir, das Warten wird sich lohnen.«
Nicht sonderlich überzeugt, zog er die buschigen Augenbrauen hoch. Geduldig erklärte sie weiter: »Wir beide gehen jetzt zu Helmbrecht und bitten ihn, eine Nachricht von dir an deine Mutter zu übermitteln. Dann kann sie selbst entscheiden, ob sie dich wiedersehen will.«
»Und wenn sie nicht will?« Seine Unterlippe bebte.
»Hast du je eine Mutter gesehen, die ihr Kind zurückgewiesen hätte?«
Ihre Stimme wurde leise, zärtlich strich sie ihm über die Wange. Mathias ließ sie gewähren. Bei Christoph hatte sie das auch gern getan, schoss ihr durch den Kopf. Allerdings war es ein ganz anderes Gefühl. Sie schluckte. Im selben Moment war ihr klar: Mathias war nur mehr ein Freund aus vergangenen Kindheitstagen. Längst war sie dem entwachsen. Pantzer hatte
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