Das Bernsteinerbe
Hände verriet, wie sehr sie fror. Sie schob die Fäuste unter die Achseln und trat fröstelnd von einem Bein aufs andere.
»Hörst du sie nicht bis hier oben schnarchen?« Verschwörerisch zwinkerte Lina der Kleinen zu. »Das Kochen war anstrengend. Sie wollte es doch unbedingt ganz allein übernehmen. Jetzt schläft sie den Schlaf der Gerechten und wacht erst in zwei Stunden wieder auf. Komm, hilf mir beim Flechten der Haare.«
Sie hielt Milla die Bürste hin, zog mit der anderen Hand das Tuch vom Kopf und ließ den dicken Hintern auf den einzigen Schemel in der engen Kammer plumpsen. »Für meinen Liebsten will ich schön sein.«
»Wenn das nur gutgeht.« Milla stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihr den Scheitel mittig ansetzen zu können. Vor Anstrengung schob sich ihre Zunge zwischen die Lippen. Mit aller Kraft zerrte sie den grobzackigen Holzkamm durch die struppigen Strähnen. »Autsch! Nicht so fest!«, schimpfte Lina. »Du reißt mir noch alle Haare aus.«
»Verzeih!« Das Gesicht des zierlichen Mädchens lief puterrot an.
»Schon gut«, knurrte Lina und nahm ihr den Kamm aus der Hand. »Ich komme auch allein klar.«
»Wie du meinst.« Millas Augen schimmerten feucht, ein heftiger Schluckauf schüttelte den schmächtigen Körper. Sie stierte zu Boden.
»Nimm dir doch nicht alles so zu Herzen!« Mitleidig tätschelte Lina ihr die Schultern. »Es war nicht so gemeint.«
Sie zwinkerte ihr aufmunternd zu, dann widmete sie sich ganz ihrem Haar und hatte es mit wenigen Handgriffen zu zwei großen Zöpfen geflochten. Geschickt wand sie diese um den Kopf, kramte aus der Kiste unter ihrem Bett ein buntes Tuch hervor und band das darüber. »Wie sehe ich aus?« Sie kniff sich fest in die Wangen, um das frische Rot darauf zu verstärken. Die Hände in die breiten Hüften gestemmt, wiegte sie sich hin und her. Die von Eisblumen übersäte Scheibe der kleinen Fensterluke konnte leider nicht als Spiegel herhalten.
»Schön«, flüsterte Milla andächtig.
»Nicht vergessen«, mahnend hob Lina den Zeigefinger, »falls Hedwig doch hier hereinplatzt und mich sucht, bin ich auf dem Abtritt …«
»Weil dir das Essen quer im Bauch liegt und du gar nicht mehr vom Balken wegkommst«, ergänzte Milla, sichtlich stolz, von der Älteren für würdig befunden zu werden, als Vertraute zu dienen.
»Brav«, tätschelte Lina ihr die Wangen und hoffte für sie, es würde keinen Anlass zum Lügen geben. Nie sollte die Kleine die Alte hintergehen oder gar verärgern, nicht einmal ihretwegen. Lina schnaufte. Bevor Milla etwas von ihrer Aufregung merkte, griff sie sich das Wolltuch vom Haken neben der Tür und huschte mit einem kurzen Winken hinaus.
Auch die Grohnert-Damen hielten Mittagsruhe. Unbemerkt gelangte Lina zur Tür und fand sich wenig später atemlos, aber glücklich mitten auf der Langgasse wieder.
Munter tanzten Schneeflocken durch die kalte Novemberluft. Ein zarter weißer Schleier hatte sich über das Pflaster gelegt. Lina genoss es, ihre Fußspuren in der jungfräulichen Decke einzugraben. Wenigstens für eine kurze Zeit blieb irgendwo etwas von ihr. Sie hüpfte weiter, voller Vorfreude auf ein unerlaubtes Vergnügen mit Steutner. Dann aber wurden ihr die Augen feucht. Sie dachte an Karl. Noch hatte sie es nicht gewagt, Steutner von dem Kind zu erzählen. Pure Angst erfasste sie bei der Vorstellung, er käme ihr auf die Schliche. Nein, besser, sie vergaß den Kleinen für eine Weile. Erst, wenn sie Steutners wirklich sicher war, konnte sie es ihm gestehen. Wieso aber dachte sie, es käme je so weit? Sie biss sich auf die Lippen, rief sich sein verschmitztes Lächeln ins Gedächtnis. Steutner schien ein aufrechter Mensch, anders als die anderen. Gewiss würde er ihr helfen, den Kleinen zu sich zu holen. Es wäre zu schön! Gerührt atmete sie durch. Die frische Luft tat gut. Anders als an den vorangegangenen Tagen wurde das Schneetreiben nicht von eisigem Ostwind begleitet. Dafür blitzte sogar hin und wieder die Sonne zwischen den Wolkenbergen auf.
»Ist Sankt Martin weiß, bleibt der Winter lang und kalt«, ertönte eine männliche Stimme dicht neben ihr. Wie ertappt sah sie sich um.
»Hast du etwa ein schlechtes Gewissen?« Mit einem schelmischen Grinsen sprang Humbert Steutner aus einer Mauernische hervor und legte sogleich den Arm um sie. »Keine Sorge, Sankt Martin war gestern. Heute kannst du beruhigt aufatmen. Es ist kein Feiertag mehr.«
»Nicht«, schüttelte sie ihn ab. »Lass uns erst aus dem
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