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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Menschen. Ein bettelndes Weib streckte Carlotta die schmutzige Hand entgegen. Sie suchte in ihrer Manteltasche nach ein paar Münzen und schenkte sie der Armen.
    »Gott schütze dich, mein Kind!« Dankbar küsste die Alte ihr den Mantelsaum.
    »Schon gut«, befreite Carlotta sich und stolperte bereits über das nächste Hindernis. Spielende Kinder jagten eine Schar Gänse vor sich her, zeternd rannte ein junges Mädchen ihnen nach. Kurz vor dem Brückenkopf hatten sich Bauersleute mit ihren Körben postiert. Neben runzeligen Äpfeln und matschigen Birnen priesen sie die letzten Kräuter des Herbstes an.
    Kaum schlug Carlotta der beißende Geruch des nahen Fischmarkts entgegen, fasste jemand nach ihrem Arm. Verärgert suchte sie sich zu befreien, wollte bereits laut schimpfen, da stand wie aus dem Nichts Mathias vor ihr.
    Ihr schwanden die Sinne. Das Nächste, was sie wahrnahm, war, dass der hoch aufgeschossene Offizier sie stützte, bis sie das Geländer der Schmiedebrücke erreichten.
    Beim Anblick des Kurfürstlichen wichen die Menschen beiseite. Nach allem, was in der letzten Zeit geschehen war, versetzte sie das Auftauchen eines Dragoners aus den Reihen Friedrich Wilhelms in Angst und Schrecken. Selbst dass er allein war, vermochte nichts daran zu ändern. Carlotta wurde dessen jedoch kaum gewahr. Die ganze Anspannung der letzten Tage brach sich Bahn: der Einmarsch der Truppen im Kneiphof, das unverhoffte Wiedersehen mit Mathias, die Entfremdung von Christoph, Pantzers eigentümliches Gebaren und vor allem sein unbeholfenes Eintreten für den Freund. Erschöpft sank sie gegen Mathias’ weichen, blauen Soldatenrock. Ein angenehmer Duft nach Wein, Kaffee, Tabak und Seife hing darin, vermischt mit einer verheißungsvollen Ahnung von Pferd, Heu und kühler Weite jenseits der Stadt. Eine Zeitlang verharrte sie schweigend, genoss den Augenblick der verbotenen Nähe, bis sie sich gestärkt fühlte.
    »Wo kommst du her?« Neugierig schaute sie auf. Ihre Angst war verflogen. Etwas sehr Vertrautes, lang Vermisstes haftete Mathias plötzlich an. Sie konnte nicht mehr verstehen, warum sie sich vor ihm gefürchtet hatte. Er war der Gefährte aus einer der schwersten Zeiten ihres noch jungen Lebens. Wie hatte sie das vergessen können?
    Aufmerksam musterte sie ihn. Wie damals war sein Gesicht sehr blass. Der dunkle Bart an Kinn und Oberlippe unterstrich diesen Eindruck. Um den schmallippigen Mund lag nun ein schüchternes Lächeln. Das Schwarz seiner Augen zog sie sogleich wieder in Bann. Unbeholfen schwankte sie, lehnte sich abermals haltsuchend gegen seine Brust. Behutsam legte er ihr den Arm um die Schultern und hielt sie einfach nur fest. Es war, als wäre sie nach Hause gekommen.
    »Unerhört«, rief eine zornige Stimme. Erstaunt sah sie auf. Noch immer hielten die Menschen respektvollen Abstand zu Mathias. Undeutlich meinte sie weiter hinten, im Schatten der Schmiedegasse, eine in die Luft gereckte Faust zu erspähen. »Soldatenhure«, zischte es aus einer anderen Ecke. Voller Abscheu spuckte jemand zu Boden. »Dass du dich nicht schämst!«, flüsterte es hinter ihr.
    Carlotta zog den Kopf zwischen die Schultern und vergrub das Gesicht an Mathias’ Schulter. Eng aneinandergeschmiegt wankten sie über die Brücke, zwängten sich am jenseitigen Ufer durch die Menge zum Kohlmarkt hinüber. An einer leeren Krämerbude hielten sie an und drückten sich in eine Nische, um der Aufmerksamkeit der Leute zu entrinnen.
    »Verzeih mir«, flüsterte Mathias und drückte sie an sich. Dankbar schloss sie die Augen, genoss die alte Vertrautheit. Bald meinte sie, wieder in den Wäldern vor Thorn mit Mathias allein zu sein. Die innigen Stunden ließen sich wieder heraufbeschwören, als lägen nicht vier Jahre, sondern nur wenige Augenblicke dazwischen. In ihrem Bauch begann es zu kribbeln, da rückte Mathias unverhofft von ihr ab.
    »Du aber musst mir endlich die Wahrheit sagen«, befahl er harsch und zerriss damit den Schleier der süßen Erinnerung. Erstaunt sah sie ihn an. Das Schwarz seiner Augen hatte sich verwandelt. Die Tiefe darin hatte einem anderen, erschreckenden Ausdruck Platz gemacht. Auch den kannte sie leider nur zu gut. Damals in Frankfurt, im halb abgerissenen Haus seiner Eltern, und an jenem Ostersamstag in Erfurt, als er sie mit Gewalt hatte verführen wollen, hatte er sie ebenfalls derart unerbittlich angesehen. Deutlich spiegelte sich sein Wunsch darin, sie zu etwas zu zwingen, das ihr zutiefst widerstrebte.
    »Wo

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