Das Bernsteinerbe
seinem Gürtel sichtbar. Herausfordernd stützte er die Hand auf den Knauf. Carlotta begriff. Sie gab die Zügel des Rappen frei, stürzte abermals zu dem Leblosen, kniete neben ihm nieder und legte ihm die flache Hand auf die Stirn. Bildete sie sich das ein, oder hörte sie tatsächlich ein leises Stöhnen aus seinem Mund?
»Was ist passiert?« Magdalena stand plötzlich neben ihr am Wegrand und schaute erstaunt auf den im Schneematsch liegenden Studenten hinab. Die Blutlache versickerte im weißgrauen Boden. »O Gott!«, entfuhr es ihr, und sie schlug sich die Hand vor den Mund.
Noch ehe Carlotta ihr die Sache erklären konnte, zügelte Mathias sein Pferd, presste ihm die Waden an die Flanken und stob mitten durch das Dorf davon. Es kümmerte ihn wenig, dass sein wilder Ritt den einen oder anderen zwang, sich durch einen entschiedenen Sprung in den Graben vor den Hufen des Rappen zu retten. Flüche wurden laut, manch einer ballte zornig die Faust in der Luft. Bald schon war der schwarze Reiter in der Ferne verschwunden.
»War das Mathias?«, fragte Magdalena.
4
S eit der Abreise der beiden Grohnert-Damen vor fünf Tagen lag eine gespenstische Stille auf dem Kaufmannshaus in der Kneiphofer Langgasse. Lina meinte schon, sich lediglich auf Zehenspitzen fortbewegen zu dürfen. Jeder Schritt auf dem Dielenboden schien ihr vorwurfsvoll in den Ohren zu hallen. In sämtlichen Geschossen des weitläufigen Gebäudes wurde nur mehr geflüstert. In der Küche knisterte zwar munter das Herdfeuer und sorgte dank des breiten Kamins bis in die obersten Etagen für wohlige Wärme. Ansonsten aber hatte Hedwig sie und Milla gleich am Donnerstag noch sämtliche Töpfe und Pfannen auf Hochglanz polieren und vorerst für unbestimmte Zeit ordentlich auf den Wandborden verräumen lassen. Ein einziger Topf blieb am Kesselhaken hängen. Darin köchelte eine größere Menge Gerstenbrei. Zu allen Mahlzeiten schöpfte die Köchin jedem eine Kelle davon in die Schale und reichte Brot dazu. »Sind die Herrschaften nicht da, müssen wir nicht wie die Könige leben«, hatte sie geknurrt, als Steutner gleich am ersten Tag schon die schmale Kost bemängelt und an die reichen Vorräte im Keller erinnert hatte. Seither löffelten alle schweigsam den Brei. Selbst am gestrigen Sonntag hatte Hedwig den beiden Mägden nach dem Kirchgang lediglich eine Schüssel Latwerge als zusätzliche Beilage kredenzt.
Auch in anderen Bereichen war Hedwigs strenges Regiment schmerzhaft zu spüren. Seit letztem Donnerstag mussten sich Lina und Milla Stube für Stube von oben nach unten durch das gesamte Haus putzen. Jeden Abend unternahm die Wirtschafterin einen Kontrollgang und überprüfte, ob die beiden Mägde das zu ihrer Zufriedenheit erledigt hatten.
»Dabei geht es auf Weihnachten zu, nicht aufs Frühjahr«, murrte Lina, sobald sie an diesem Vormittag mit der jüngeren Milla allein in der Wohnstube war. Vor wenigen Augenblicken erst hatte Hedwig ihnen noch eingebleut, wie der dunkel gebeizte Nussbaumtresor an der einen Stirnseite und das Ahnenporträt zu pflegen seien. »Vor Ostern dürfen wir bestimmt wieder die Staubwedel schwingen und die Teppiche klopfen, als wäre es ein Vergnügen, bis in die Dachgiebel hinein jedes einzelne Wandbord auf Hochglanz zu bringen.«
Vor Schreck riss die dürre Milla die braunen Rehaugen auf und wisperte aufgeregt: »Meinst du, die Grohnert-Damen bleiben so lange weg? Was soll nur in der Zwischenzeit aus uns werden? Am Ende schickt Hedwig uns fort, weil nichts mehr zu tun ist!«
Tränen kullerten ihr über die Wangen, der schmächtige Leib bebte.
»Mach dir keine Sorgen«, beschwichtigte Lina das Mädchen. »Vorerst gibt es beileibe genug, was getan werden muss. Denk allein an den Waschtag, der nächste Woche ansteht. Die Waschweiber sind schon lang bestellt. Gerade weil die Grohnert-Damen nicht da sind, wird Hedwig sie im Haus haben wollen und sämtliche Truhen aufreißen, Wäsche zum Waschen zu finden. Nach diesem Tag wird dann bestimmt das ganze Weißzeug ausgebessert. Auch einige der Kleidungsstücke gilt es zu flicken oder abzuändern. Zudem ist das Silber zu putzen, von den Leuchtern ganz zu schweigen. Wenn wir Pech haben, müssen wir außerdem in den feuchten Keller hinunter und dort die Vorräte sortieren. Die eingelagerten Äpfel durchzuschauen, ist längst überfällig.«
»In den Keller? Bei der Kälte?« Milla schauderte. »Bestimmt laufen da wieder die Mäuse rum, so wie letztens, als ich Kraut holen
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