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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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die Finger in den Schnee, bekam einen dicken Klumpen des eisigen Nass zu fassen. Unwillkürlich schob sie mehr davon in der Hand zusammen, barg kleine Steine und Dreck darin, formte eine Kugel darum. Im Aufstehen schleuderte sie die Schneekugel mit aller Kraft gegen Mathias’ Kopf.
    Der Schneeball traf ihn genau an der Wange. Verdutzt hielt er inne, starrte sie an und kippte dann zur Seite.
    Sie eilte zu Thiesler und kniete besorgt neben ihm nieder. Die Blutlache um seinen Kopf war größer geworden. Er war ohne Bewusstsein. Rasch beugte sie sich über ihn und legte ihm die Fingerkuppen an den Hals, um nach einem Lebenszeichen zu suchen. Ob es an der Kälte lag, an ihrer eigenen Aufgeregtheit oder ob er tatsächlich tot war, genau zu unterscheiden wusste sie es nicht. Nur eins wusste sie: Sie fand keinen Puls! Verstört lockerte sie den Schal um seinen Hals, knöpfte den Hemdkragen darunter auf, um den Hals noch ein Stück weiter freizulegen. Wieder nichts! Ihr Blick wanderte über den reglosen Körper. Er bot ein Bild des Jammers. Die Kleider waren durch den Kampf stark verschmutzt, die Hosen zerrissen. Das Gesicht war von den Fausthieben verquollen, die Augenlider dick und blau, die Lippen blutig aufgesprungen, die Wangen zerkratzt. Vorsichtig fasste sie den Kopf mit beiden Händen und hob ihn an, um die Verletzung am Hinterkopf besser einschätzen zu können.
    Wie befürchtet, klaffte dort eine große Wunde. Haare und Schmutz verklebten sie, Blut pulste jedoch keines mehr heraus, es hatte sich bereits eine dünne Kruste gebildet. Das beruhigte und beunruhigte sie zugleich. Vermutlich war Thiesler beim Niederfallen mit dem Kopf auf die Kante eines Steins aufgeschlagen. Geräusche lenkten sie jedoch davon ab, der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Mathias kam zu sich, setzte sich auf und rieb sich die schmerzende Wange.
    »Du hast ihn umgebracht!«
    Schrill gellte ihr Schrei durch die leere Winterlandschaft. Die Hunde am Dorfrand begannen von neuem mit ihrem Gebell, schnaubend trabte Mathias’ Pferd heran und stupste seinen Herrn von der Seite aufmunternd an. Verärgert schob er es weg.
    »Red keinen Unsinn«, raunzte er und stand auf. »Der tut doch nur so, weil er von dir bemitleidet werden will.«
    Carlotta schüttelte den Kopf, widmete sich wieder Thiesler. Keinen Mucks gab er von sich, kein Muskel regte sich.
    Sie strich dem Studenten die Lider zu und murmelte ein Gebet. Dann sprang sie auf die Füße, sah suchend zum Dorf. Der Wind blies ihr eine Wolke Schnee ins Gesicht, zerrte an ihren Kleidern. Sie rieb sich die Augen, brauchte eine Zeitlang, bis sie klar sehen konnte. Auf einmal wurden ihr die klammen Finger wieder bewusst, spürte sie die steifgefrorenen Zehen in den nassen Schuhen.
    Außer Mathias und ihr war keine Menschenseele draußen unterwegs. Alle hatten sich in ihre Behausungen verkrochen, duckten sich um das Herdfeuer und hofften auf ein baldiges Ende dieser unwirtlichen Zeit. Das Bellen der Hunde am Dorfrand wurde leiser, die dreifarbig getigerte Katze schlich noch einmal vorbei.
    Carlotta schloss die Augen, stellte sich die vielen Männer im Krug vor, roch die salzige Suppe, den feuchten Bier- und Menschendunst. Weit war es nicht bis zum Gasthaus nahe der Burg, dennoch schien es in einer anderen Welt zu liegen. Niemand dort ahnte, was sich nur wenige Schritte außerhalb der Lischke abgespielt hatte. Erst später, wenn es ans Essen ging oder Tromnaus Fuhrmann vielleicht doch noch zum Aufbruch mahnte, würde man nach Thiesler und ihr suchen.
    Eine Träne löste sich aus ihren Wimpern. Es war ihr gleich, wenn die Löbenichter Kaufleute sie für verdorben hielten. Schniefend wischte sie sich mit dem Handrücken die feuchte Wange. Aber es war ihr nicht gleich, dass Thiesler ihretwegen allein aus Edelmut sein viel zu junges Leben verloren hatte. Wie hatte sie ihn nur für einen geschwätzigen Langweiler halten können!
    Mathias’ Rappe scharrte mit den Hufen. Stiefelschritte knirschten im Schnee. Mathias sagte etwas zu dem Tier, dann griff er nach den Zügeln und schwang sich in den Sattel.
    »Wo willst du hin?« Mit einem Satz stand sie bei ihm, packte ihn am Stiefel. »Du wirst doch nicht etwa abhauen!«
    Von neuem überschlug sich ihre Stimme, tönte hell und unwirklich gegen den eisigen Wind. Mathias schnalzte mit der Zunge und lenkte sein Pferd mit den Schenkeln herum.
    »Nein!«, gellte es abermals aus ihrem Mund durch die eisige Winterluft. Der Rappe setzte sich in Bewegung, trabte an.

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