Das Bernsteinerbe
musste. Erinnerst du dich, wie mir eine über den Fuß gehuscht ist?«
Bei dem Gedanken an das Gekreische, das Milla bei der Gelegenheit ausgestoßen hatte, musste Lina grinsen. »Sei froh, dass es nur der Fuß war.« Eine eigenartige Lust, die Kleine weiter zu ängstigen, überkam sie. Sie krümmte die Finger zu Krallen und beugte sich mit einer entsetzlichen Grimasse zu Milla. »Je weiter die Kälte voranschreitet, desto frecher werden die Biester. Kein Wunder, die sind ja völlig ausgehungert. Äpfel allein mögen die nicht mehr knabbern. Die brauchen jetzt Fleisch. Wenn du mit den Händen in der Kiste steckst, um das Obst zu sortieren, wetzen sie ihre spitzen Zähne und schnappen zu.«
Mit einem Satz schnellte sie nach vorn und zwickte das Mädchen in die Arme.
»Iiiieeeeh!«, schrie Milla auf.
»Scht!« Erschrocken legte Lina mahnend den Zeigefinger vor die Lippen. Milla begriff, jammerte jedoch leise weiter. »Die sollen doch nicht nach meinem Finger schnappen!«
Wie um sich zu beweisen, dass das nicht lohnt, betrachtete sie ihren Zeigefinger. Viel mehr als Haut und Knochen war nicht daran. Lina kicherte leise in sich hinein. Da erst begriff Milla den Spaß. Verärgert kehrte sie ihr den Rücken zu und widmete sich dem prächtigen Nussbaumholztresor. Dazu wickelte sie den Staublappen um die Fingerkuppen und wischte jede einzelne Verzierung sorgfältig nach. Gelegentlich pustete sie in Vertiefungen und fuhr zwischen die Ritzen.
Lina beobachtete sie eine Zeitlang, dann griff auch sie wieder nach ihrem Putztuch und kletterte auf die Wäschetruhe an der gegenüberliegenden Stirnseite. Um den goldenen Rahmen des Ahnenporträts abzustauben, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Argwöhnisch beäugte sie die düstere Leinwand. Urahn Paul Joseph Singeknecht schien noch strenger als sonst auf das Geschehen hinabzublicken. Behutsam wedelte Lina ihm über das Gesicht, um den Staub auch von dem Ölgemälde zu befreien. Vielleicht schaute der alte Kaufmann dann wieder freundlicher in die Welt. Anschließend widmete sie sich dem Rahmen und reckte sich noch etwas höher auf die Zehenspitzen. Ehe sie sich versah, verlor sie das Gleichgewicht und fiel mit dem Oberkörper gegen das Bild. Vor Schreck stützte sie sich mit den Händen mitten auf der Leinwand ab, spürte sofort das gefährliche Nachgeben des Stoffes. Unwillkürlich wankte sie nach hinten, ruderte haltsuchend mit den Armen und kam endlich wieder aufrecht ins Stehen. Mit klopfendem Herzen kletterte sie von der Truhe und eilte zum Wandbord an der Längsseite der Stube.
Keinen Moment zu früh beschäftigte sie sich dort. Ohne dass ihre watschelnden Schritte auf der Treppe zu hören gewesen waren, riss Hedwig einen der beiden Türflügel auf.
»Seid ihr zwei fleißig?«, krächzte sie und ließ den Blick neugierig durch den Raum schweifen. Dann erst trat sie ein. In der Hand hielt sie ein halbes Dutzend Zweige. »Gib mir bitte den Krug von dort oben«, bat sie Lina und zeigte auf ein irdenes Gefäß. Gehorsam reichte sie ihr das Gewünschte. Hedwig runzelte missbilligend die Stirn, als sie sah, wie staubig der noch war. »Lange bist du wohl noch nicht mit dem Wandbord zugange.«
Der Zeigefinger ihrer freien Hand wischte über das Regalbrett. Doch zum Glück stimmte das Ergebnis sie zufrieden. Stumm trat sie zu dem Porträt von Paul Joseph Singeknecht, stellte sich auf die Zehenspitzen und begutachtete den Stand des Putzens. Lina hielt die Luft an, wagte kaum, den Kopf zu heben. Sie fürchtete, die Köchin durch ihr Hinschauen erst recht auf mutmaßliche Risse in der Leinwand aufmerksam zu machen. Doch auch an dieser Stelle fand Hedwig überraschenderweise nichts zu beanstanden. Zufrieden steckte sie die Zweige in den Krug und drapierte diesen auf dem langen Tisch in der Mitte der Wohnstube. »Zweige schneiden an Sankt Barbara, dann sind bis Weihnachten Blüten da«, erklärte sie aufgeräumt.
»Sind die Herrschaften bis dahin auch bestimmt wieder zurück?«, platzte Milla heraus.
Hedwig watschelte zu der Kleinen und strich ihr über das strähnige Haar. »Vermisst du die gute Frau Grohnert so sehr?«
Milla antwortete mit einem verzweifelten Aufschluchzen. Weinend fiel sie der Köchin um den Hals. »Was ist, wenn sie nicht mehr wiederkommen? Was wird dann aus uns?«, fragte sie mit piepsigem Stimmchen.
»Mach dir keine Sorgen, mein Kind«, brummte die Alte und tätschelte ihr den Rücken. »Sie werden wiederkommen, ganz gewiss. Sie lassen uns doch
Weitere Kostenlose Bücher